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Theoretischer Konstruktivismus: Kompetente, ahnungslose Akteure
Bei aller Plausibilität und Wichtigkeit dieser poststrukturalistischen, reflexiven
Blickeröffnungen ist ein Blick auf deren wissenschaftstheoretische Prämissen
und Implikationen zu werfen. Welches Subjektverständnis unterliegt ihnen, bzw.
wer sind die von ihnen vorausgesetzten Handelnden? Die konstruktivistischen
Paradigmen des „alltäglichen Geographie-Machens“ und des „Sehen als Praxis“
sind zunächst einmal wissenschaftsinterne Perspektiven. Sie machen die Produk-
tion von Welt zum Gegenstand kritischer Reflektion. Die Instanz dieser Reflexi-
on ist die Wissenschaft, und zwar die Sozial- und Geisteswissenschaft. Der Ge-
halt des Gegenstands entsteht dabei insbesondere durch die inhärente Kontrain-
tuitivität. Der „turn“, auf den die Paradigmen verweisen, erklärt sich über die
Abwendung von einem alltagsweltlich verbreiteten realistischen, d. h. von onto-
logischer Objektivität ausgehenden Weltverständnis, das aus dieser Perspektive
nunmehr als „naiv“ erkannt und dementsprechend entzaubert werden kann. Das
ist eine kritische Brechung institutionalisierten alltagsweltlichen Denkens und
ein erkenntnistheoretischer Meilenstein, bleibt aber einem aufklärerischen Ge-
stus verhaftet, wenn die Geographie nun belehrt: „Ihr dachtet, der Raum wäre,
wie er ist? Aber nein! Raum ist nicht, er wird alltäglich gemacht (auch wenn ihr
das nicht merkt)!“ und die Bildwissenschaft enthüllt: „Ihr dachtet, Bilder seien
unveränderbar, wie sie uns erscheinen? Aber nein, Bilder sind nicht, sie werden
erst im Sehen gemacht (auch wenn ihr das nicht so seht)!“. Das Fürwahrhalten
von Gegenständen und Sachverhalten ist allerdings im Alltag geradezu unver-
zichtbar, will man sich verständigen. Auf den Raum bezogen: Wenn ich mich
verabrede, brauche ich einen exakten Ort mit bestimmten Eigenschaften und
keine dekonstruktivistischen Reflexionen. Und so scheint auch klar, dass eine
bildungsprogrammatische Verankerung des Aufbrechens der Selbstverständlich-
keiten derzeit zwar geographiedidaktisch gewollt (DGfG 2002; 2010), aber
schwierig ist (vgl. Gryl 2010).
Hinzu kommt, dass mit solch reflexiver Haltung wenig Konstruktives, Vor-
wärtsgerichtetes und Motivierendes verbunden ist, zumindest nicht auf den ers-
ten Blick. Ein zentrales Moment der kritisch-reflexiven Perspektive ist vielmehr,
dass Geographie-Machen oder Bilder-Machen nicht frei, d. h. unter selbst ge-
wählten Umständen erfolgt. Gerade in Bezug auf die (visuellen) Medien werden
insbesondere aus diskurstheoretischer Sicht die Machtstrukturen und damit die
Einschränkungen eines freien Entscheidens und Handelns (Interpretierens) be-
tont (Miggelbrink/Schlottmann 2009). Die kritisch-wissenschaftliche Reflektion
ist daher, so die konsequente Ausrichtung des analytischen Blicks, auf diese
Einschränkungen und weniger auf die Möglichkeiten zu richten. Das ist durch-
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