Geography Reference
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Erst retrospektiv wird die Trajektorie der Bewegung zu einer Eingrenzung ähn-
lich einer Grenzlinie, die Orte von einem umgebenden Raum abtrennen. 8
Navigation - und das betrifft auch die Navigation im Internet - zeugt davon,
dass wir nicht nur als „earthbound beings“ an Orten leben, sondern dass sich das
Leben durch, um, von und zu Orten weg bewegend stattfindet (Ingold 2011:
146). Der Anthropologe Tim Ingold bezeichnet diese durch und durch körperli-
che Erfahrung als ein „perambulatory movement“ (ebd.: 148), mittels dessen
sich die menschliche Existenz nicht als ortsgebunden, aber als ortsverbindend,
als ein Leben nicht an Orten, sondern entlang von Pfaden entfaltet. Locative
Media scheinen genau dieser sozialanthropologischen ‚Konstante' zu entspre-
chen. Offen bleibt dabei jedoch, ob hierzu ein Bewusstsein über den eigenen
Standort eine notwendige navigatorische Voraussetzung ist oder nicht. Hierzu
gibt es unterschiedliche Ansichten.
Ingold führt eine Differenzierung in Navigation und Wegfindung ein, um auf
einen unterschiedlichen Mediengebrauch hinzuweisen: Während die Navigation
einer Kenntnis des eigenen Ortes und mithin der Vermittlung durch eine Karte
bedarf, folgt bei der Wegfindung die eigene Bewegung in Bezug auf die Bewe-
gung anderer (Ingold 2000: 235ff.). Ähnlich hat dies Alfred Gell (1985: 274)
beschrieben: „[S]patially knowledgeable wayfinding performances [...], by defi-
nition, occur without the assistance of maps.“ Daher stellt sich nicht nur in Be-
zug auf Latours Verständnis die Frage, ob wir es bei navigatorischen Interpreta-
tionen einzelner Wegpunkte oder Wege überhaupt noch mit abbildbaren Karten
zu tun haben. Gell zeigt deutlich, dass es bei der Navigation nicht um ‚Karten-
glauben' geht, sondern um transitorische Wahrheitsbedingungen. Er definiert
eine Karte als „any system of spatial knowledge and/or belief which takes the
form of non-token-indexical statements about the spatial location of places and
objects“ (ebd.: 278). Demnach ist bereits der einzelne (bspw. als Pfeil) visuali-
sierte Geopunkt als eine Karte auffassbar.
Während also Ingold eine Differenzierung in Navigation und Wegfindung
einführt, um auf einen unterschiedlichen Kartengebrauch hinzuweisen, erweitert
Gell den Kartenbegriff, um die Intentionalität der Bewegung im Raum nicht
thematisch werden zu lassen. Die Unterscheidung in eine Aufzeichnung und
Nachzeichnung von Standorten und Wegen ist daher für die Logik der Navigati-
on, für die Axiomatik der kognitiven Geographie und mithin für eine Theorie der
Locative Media nicht unwichtig, weil diese genau auf die von Ingold und Gell
8 Trifft man die Unterscheidung in eine instantane und nachträgliche Spur-/Grenzziehung, in Tra-
cking und Tracing, in Auf- und Nachzeichnung nicht, unterliegt man einer geographischen Vorstel-
lung, wie sie vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschte (vgl. z.B. Agnew
2005), wonach Orte Räumen innewohnen, wie Tim Ingold (2011: 148) deutlich macht.
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