Geography Reference
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Das Medium der Papierkarte verbarg lediglich all die Institutionen, Fähig-
keiten, Konventionen und Instrumente, dessen es sich verdankt, während das
Digitale die einzelnen Mediationsschritte innerhalb einer Kartenproduktionskette
transparenter hervortreten lässt (vgl. Carpo 2011) - um den Preis, dass die algo-
rithmische Transformation selbst undurchsichtiger wird (vgl. Lash/Lury 2005).
Bezogen auf die organisationelle Struktur heißt dies:
„As usual, far from increasing the feeling of dematerialization, digital techniques have remateri-
alized the whole chain of production. Today it is impossible to ignore that, whenever a printed map is
available, there exist, upstream as well as downstream, a long and costly chain of production that
requires people, skills, energy, software, and institutions and on which the constantly changing
quality of the data always depends. If BC every geographer knew that (after all, it was part and parcel
of their daily practice), in the AC era every end-user is prone to feel the presence of those networks
as well.“ (November et al. 2010: 584)
Entscheidend für das neue kartographische Bewusstsein scheinen also nicht die
digitalen Technologien allein zu sein, sondern auch das Wissen um die Präsenz
der technologie-konstituierenden Netzwerke. Welche grundlegenden Folgen ein
solcher epistemologischer Perspektivwechsel hat, haben 2010 Andreas Kleine-
berg et al. in ihrem Buch Germania und die Insel Thule gezeigt.
Germania, das Land der Barbaren und der Wildnis - diese Vorstellung reprä-
sentiert bis heute unser kulturelles Verständnis Germaniens und war bis vor
kurzem auch noch Stand der Forschung. Wo die Urahnen der Deutschen zur Zeit
der Römer ihre Siedlungen hatten, blieb lange Zeit ein Rätsel. Dies hat vor allen
Dingen damit zu tun, dass Historiker sich auf die Eintragung der Orte auf der
ersten Karte Germanias verließen, die Ptolemäus zugeschrieben wurde. Bekannt-
lich versuchte Claudius Ptolemäus zwischen ca. 100 und 170 n. Chr. als Erster
eine umfassende geographische Beschreibung der Welt. Im zweiten Buch seiner
Geographia findet sich seine Darstellung Germaniens.
Wie bei der Neokartographie heute hing die Validität der dargelegten Infor-
mationen von den Mechanismen der sozialen Netzwerke jener Zeit ab. Aus Pto-
lemäus geodätischen Berechnungen entstand erst viel später die Karte Germa-
nias. Diese verspätete Synthetisierung der Daten zu einer Karte erwies sich, wie
wir heute wissen, als höchst problematisch. Denn von jeher blieb immer ein
Rätsel, warum keiner der in der Germania-Karte genannten Orte einer archäolo-
gisch nachweisbaren Siedlung zurechenbar war, warum die 94 Orte Germaniens
bei Ptolemäus keine neuzeitliche Entsprechung fanden. Dieses Rätsel wurde erst
2010 in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Geodäten, Historikern und
Informatikern gelöst.
Es stellte sich heraus, dass sich bei Ptolemäus' Integration der höchst unter-
schiedlichen Geodaten systematische Mess- und Umrechnungsfehler einschli-
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