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Stets weckt die Realität uns wieder. Rund
70.000 Eimer Wasser lenzen wir während
der Reise, eine lebenswichtige Plackerei.
Abwechselnd sitzen wir bis zur Hüfte im to-
senden Wasser auf den Auslegern, die übri-
gens auch als Toilette dienen, und ziehen
neue Rattanschlingen nach, schlagen Keile
zwischen die Halterungen, die sich immer
wieder bedrohlich lockern.
Entsetzen packt uns, als der Amerikaner
Don King, mit 24 Jahren der Jüngste an
Bord, bei solch einem Auslegerritt von ei-
nem Wellenmonster hinweggespült wird.
Nur weil er ein ausgezeichneter Schwim-
mer ist, gelingt es ihm, mit verzweifelter
Kraft die Rettungsleine zu fassen. Uns
schaudert, weil wir wissen: Wer über Bord
fällt, ist verloren und ein Fressen für die
Haie. „Sarimanok“ kann nur vor oder mit
halbem Wind segeln, auf keinen Fall schnell
wenden, um jemanden aufzufischen.
„Wo ist Madagaskar?“ Noch vertrauen
wir auf Bill McGrath, den 64-jährigen Stern-
navigator aus den USA. Nur mit Sonnen-
schattenscheibe und Sonnenkompass, zwei
seit Jahrtausenden bekannten Navigations-
hilfen, sowie der Beobachtung von Son-
nen-, Mond- und Sternenlaufbahn dirigiert
er das angeschlagene Boot Meile um Mei-
le, so hoffen wir, an die große Insel vor Ost-
afrika heran.
Da bricht der Steuerbordausleger, vom
unaufhörlichen Druck der See mürbe ge-
worden, zu einem Drittel seiner Länge ab.
Wir machen uns auf das Ende der Expedi-
tion gefasst, spähen nach der Rettungsinsel
- und trauen unseren Augen nicht: „Sarima-
nok“ schüttelt sich halb unter Wasser, hebt
sich wieder und bleibt oben. Sie will wie
wir ans Ziel kommen!
Es ist der 47. Tag auf See, als wir seit
Stunden auf ein mächtiges Wolkengebilde
am westlichen Himmel starren. Wenige
Stunden brüllt Bob mit sich überschlagen-
der Stimme vom Mast herunter: „Land ho!
Land in Sicht!“
Unter der Wolke taucht die Nordspitze
von Madagaskar auf. Endlich das andere
Ende des Ozeans. Ein einzigartiger Erfolg
für Navigator Bill, der über 7000 Kilometer
Wasserwüste diesen Punkt, den Hafen von
Diego-Suarez angepeilt hat. Wir alle jubeln,
sind unbeschreiblich glücklich.
Noch bestimmt das Meer, und das gibt
uns so schnell nicht frei. Ein Sturmtief aus
Süden und haushohe, weißmähnige Wel-
len, zwingen uns, der Küste fernzubleiben
und in ruhigere Gewässer auszuweichen.
Das Boot ist vollgelaufen, Bambusstangen
sind gebrochen, die Segel zerfetzt, wir sind
erschöpft und maßlos enttäuscht. In flam-
mendem Sonnenuntergang entschwinden
die Amberberge der Nordspitze wie ein
Traum. Fast hätten wir es geschafft. Aber
beinahe wären wir auch auf den Felsen der
Küste zerschellt, so wie vor uns ungezählte
austronesische Seeleute.
Dank moderner Technik und des SOS-
Knopfes an unserem Satellitensender kön-
nen wir zwei Tage später an Land stolpern.
Allerdings noch nicht in Madagaskar, son-
dern 200 Meilen weiter, auf der Komoren-
insel Mayotte, wohin uns ein französisches
Marineboot geschleppt hat.
Dort erwartet man das „Schiff der Vor-
fahren“ sehnlichst und will es nicht der
früheren Kolonialmacht überlassen. Nach
notdürftigen Ausbesserungen bringen wir
die „Sarimanok“ am 6. September 1985
nach Nosy Be. Ein überwältigender Emp-
fang mit Blasmusik und Blumenkränzen ist
der Dank der Insulaner. In Antananarivo
gipfelt die nationale Begeisterung darin,
dass uns Präsident Ratsiraka den Verdienst-
orden überreichen lässt.
„Sarimanok“, das tapfere Boot, das uns
die 52 Tage auf See nicht im Stich gelassen
hat, schenken wir dem Volk von Madagas-
kar. Dessen Regierung hat versprochen, es
zum Mittelpunkt eines Museums zu ma-
chen. Zur Erinnerung an das asiatische Er-
be und die großartigen Leistungen austro-
nesischer Seefahrer.
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