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die meisten fanden Arbeit an den Web-
stühlen der Textilbranche. Der gesättig-
te Beschäftigungsmarkt, billige Kinder-
arbeit und die beginnende Mechanisie-
rung brachten Massenarbeitslosigkeit,
Armut und tiefes Elend in die übervölker-
ten Quartiere. Wer seiner prekären Lage
wenigstens für ein paar Stunden entrin-
nen wollte, fand Vergessen nur im Sta-
dium des Vollrausches - die erste Hälf-
te des 18. Jh. ist bekannt unter der Be-
zeichnung
Gin Craze,
der Trunksucht von
Männern, Frauen und Kindern, der (so-
gar staatlich geförderten) massenhaften
Konsumierung von billigem Fusel. Wel-
chen weiteren Verlauf nahm diese „Or-
gie des Schnapstrinkens“, als die die-
se Ära von 1720 bis 1751 in der eng-
lischen Geschichtsschreibung firmiert
(„ ... a new kind of drunkenness, un-
known to our ancestors ...“)?
Im Jahre 1725 gab es im Eastend sage
und schreibe 6187 Ausschankstellen für
billigen Schnaps, noch der kleinste Krä-
mer führte in seinem Warenangebot Gin.
1743 schütteten die Armen Londons ca.
8 Mio. Gallonen Fusel durch ihre Kehlen
(1 engl. Gallone = 4,546 l). Den staatli-
chen Autoritäten blieb dieser weitverbrei-
tete Alkoholismus nicht verborgen, es
wurde jedoch nicht eingeschritten, stand
doch die Trinkerei ganz im Interesse der
Land besitzenden Obrigkeit. In den Jah-
ren von 1720 bis 1751 gab es lediglich
drei Missernten, die Versorgungslage in
jenen Jahrzehnten war ausgezeichnet,
doch mangels Kaufkraft konnte ein Teil
des Getreides nicht losgeschlagen wer-
den und drohte zu verrotten. Um es den-
noch - wenn auch mit geringeren Ge-
winnen - zu verhökern, fand es seinen
Weg in die Destillen, wurde dort zu bil-
ligem Schnaps gebrannt und versorgte
letztendlich auf diesem Weg die Süchti-
gen mit den notwendigen Kalorien. Um
die Schnapsherstellung nicht zu beein-
trächtigen - ging es doch um die restlo-
se Verarbeitung der Getreideüberschüs-
se - wurden Verkauf und Vertrieb des Fu-
sels von staatlichen Reglementierungen
ausgenommen. Der Wirtschaftswissen-
schaftler Daniel Defoe (um 1659/60-
1731, Autor des berühmten Romans
„Robinson Crusoe“), in seinen letzten
Lebensjahren ein entschiedener Geg-
ner des Gins, schrieb 1713 ohne Kennt-
nis der sozialen und gesundheitlichen
Lage der Unterschichten: „Aber zu Zeiten
der Fülle und eines mäßigen Kornprei-
ses ist das Destillieren von Korn eines
der wesentlichen Mittel zur Stützung der
Landinteressen, das uns eine Branche
bieten kann, somit besonders zu behü-
ten und hingebungsvoll zu nutzen.“ Alar-
miert reagierten die staatlichen Autoritä-
ten erst, als mit der Einführung der Bills
of Mortality, der Registrierung von Ge-
burten und Todesfällen, die Statistik ein
äußerst ungünstiges Verhältnis zwischen
Neugeborenen und Verstorbenen zeigte.
Im Jahre 1741/42 tauften die Priester
nur 13.571 Neugeborene, dagegen emp-
fingen 32.169 Menschen die Sterbesak-
ramente. Als man begann, auch das Le-
bensalter der Verstorbenen zu registrie-
ren, trat eine erschreckend hohe Kinder-
sterblichkeit zutage: Zwischen 1730 und
1749 fanden 75 % aller Kinder unter fünf
Jahren einen frühen Tod. Der Schnaps-
konsum galt als die Hauptursache für
diese hohe Mortalitätsrate.
Schon 1729 hatte das Parlament erst-
mals versucht, den Gin mit Steuern zu
belegen: Für den Verkauf wurde eine
Lizenz notwendig (20 Pfund pro Jahr) und
von jeder verkauften Gallone mussten