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Einführung
Magical Mystery Tour der internatio-
nalen Toscana-Fraktion verschmäht
mehr und mehr die „Rationalität“ und
„Künstlichkeit“ der Florentiner Hoch-
kultur und entdeckt freudig die erd-
braunen und „naturnahen“ Gassen
und Plätze der magischen Civitas Vir-
ginis, der Stadt der Jungfrau, und pil-
gert zum Fest der Feste, dem „spekta-
kulären und gewalttätigen“ Palio, dem
Sinnbild Sienas schlechthin, der mit ei-
nem „mittelalterlichen Ritterspiel“ et-
wa so viel zu tun hat wie Gotik mit
Goethe oder Minnesang.
In Siena erlebt der Reisende noch ei-
ne scheinbar heile, überschaubare
und in sich geschlossene Welt; ange-
sichts der weltweiten Unwirtlichkeit
der Städte ein Mikrokosmos von
menschlichen Proportionen. 1956 war
das rote Siena eine der ersten Städte
Italiens, die ihr historisches Zentrum
für den Verkehr sperrte und Gewerbe-
betriebe dazu anhielt, sich in günstiger
gelegenen Provinzorten (wie Poggi-
bonsi, Colle di Val d'Elsa) anzusiedeln.
Der Verzicht auf Wachstum lieferte
die Sienesen allerdings auf Gedeih
und Verderb dem Fremdenverkehr aus
- mit allen Folgeerscheinungen. Hinter
prächtigen Fassaden schimmeln Kam-
mern, in die seit Jahrhunderten kein
Sonnenstrahl gefallen ist, durch das
enge Gewirr der Gassen kommt kein
Feuerwehrauto oder Krankenwagen,
abertausende zur gleichen Zeit du-
schende Hotelgäste lassen die Wasser-
versorgung zusammenbrechen, und
rund um die Service-City jagt ein Ver-
kehrschaos das andere und klettern
die Preise (nicht zuletzt für die Einhei-
„Siena ist eine so gut erhaltene Stadt,
dass es wie ein Pompeji des Mittelalters
anmutet.“ (Hippolyte Taine, 1866)
„Siena ist eine komplizierte Stadt. Zu
Recht hat man sie mit Schöpfungen der
Natur verglichen - einer Meduse oder
einem Stern. Der Straßenplan hat
nichts von moderner Monotonie und
der Tyrannis des rechten Winkels. Ihr
Rathausplatz, Il Campo genannt, hat
eine organische Gestalt - er erinnert an
die konkave Seite einer Muschel. Er ist
gewiss einer der schönsten Plätze der
Welt, keinem anderen ähnlich, und da-
her schwer zu beschreiben.“ (Zbigniew
Herbert, 1962)
„Siena, die Mystische“, „Gotik auf Hü-
geln“, „Mittelalter pur“ sind erst seit
vergleichsweise wenigen Jahren gän-
gige Schlagworte. Die einzig übrig ge-
bliebene nahezu perfekt gotische
Stadt Italiens, ja Europas stand lange
Zeit so sehr im Schatten des nahen,
übermächtigen Florenz, dass selbst die
überschwenglichsten Toscanaliebha-
ber sie allenfalls einer Stippvisite für
wert erachteten. Eine vergessene Insel
im Strom der Zeit. Ein Provinznest am
Rand des Existenzminimums.
Die Zeiten haben sich geändert.
„Die schönste im ganzen Land“, men-
schelt es heute im Boulevard, und in
dem Maß, wie das Interesse an Renais-
sance und Humanismus geschwun-
den ist (und Florenz im Tourismus er-
stickt), ist das „ursprünglichere“ Mittel-
alter gewaltig auf dem Vormarsch. Die
 
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