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In-Depth Information
Auf den ersten Blick
Geografie
Nach dem Fall der Berliner Mauer kur-
sierte der böse Witz, die geschäfts-
tüchtigen Teutonen hätten sie an Italien
verkaufen sollen, damit man sie an der
Grenze der Toscana zu Unteritalien auf-
stelle und so das Problem des Mezzogior-
no löse. Tatsache ist, dass die Toscana
zwar südlich des Apennin liegt, aber selbst
vom eingefleischtesten Norditaliener nur
im Ausnahmefall dem Süden („Africa“) zu-
gerechnet wird. Das ist zwar beides nicht
ganz richtig, kommt der Sache aber schon
recht nahe.
Fakten, Urteile, Vorurteile,
Missverständnisse
Museal
David. Dom. Uffizien. Wiege der Re-
naissance. Heimat Dantes, Machiavellis,
Michelangelos. Man kann fast verstehen,
dass es Leute gibt, die einen weiten Bogen
um dieses Land schlagen. Kein Weiler oh-
ne Stadtmauer aus dem Mittelalter, kein
Provinznest ohne Palazzi, keine Kleinstadt
ohne Piazza mit Dom, überall Abteien,
Museen, Kunstdenkmäler, Zeichen und
Wunder. Doch trotz der vielen Touristen,
trotz der übermächtigen Vergangenheit
und Tradition und trotz aller Stilisierung
zum süßlichen Idyll hat sich die Toscana
nie in ein Freilichtmuseum verwandeln las-
sen. Das Leben geht unvermindert weiter,
der Alltag fordert seinen Tribut. Manchmal
beschwerlich, aber immer sympathisch.
Um den Dom von Florenz flanieren alle,
u nter Pisas Schiefem Turm schmusen die
Pärchen, und in den Gassen der Dörfer sit-
zen die Alten wie eh und je.
Aussteiger
Zivilisationsmüde aus aller Herren Län-
der flüchten ins gelobte Arkadien, um dort
wieder dem einfachen, gesunden Leben
nahe zu sein. Öko-Wein und Bio-Gemüse
anbauen, töpfern, Flöte spielen, Schäfchen
züchten. Aber das Landleben ist hart, und
nur Superreiche halten sich über Wasser
(nämlich durch die Arbeit anderer) oder ri-
gorose Selbstausbeuter, die härter arbei-
ten als sie es je zu Hause getan hätten.
Stadt & Land
Städte wie Florenz, Siena, Pisa und Luc-
ca begründeten einst den Aufstieg der tos-
canischen Kultur. Aber noch heute domi-
niert das Land, auf dem wahrhaft mittelal-
terliche Verhältnisse (Mezzadria, feudale
Halbpacht) erst vor wenigen Jahrzehnten
offiziell ausgemerzt wurden, sich durch
die Hintertür aber allenthalben wieder
auszubreiten beginnen (neokolonialisti-
sche Ausländerenklaven, Agriturismo, feu-
dale Weingüter, Luxusherbergen).
Elitär
Das Geheimnis der Toscana ist nicht die
Vielfalt (und schon gar nicht der elitäre Lu-
xus), sondern die Einfachheit. Schlicht
Aquacotta, „Gekochtes Wasser“, heißt ei-
nes ihrer klassischen Gerichte, aber eine
gute von einer schlechten zu unterschei-
den fällt fast so schwer wie pisanische Ro-
manik und sienesische Gotik oder Giotto
und Duccio auseinanderzuhalten. Ge-
protzt wird in der Toscana höchst selten,
und wenn, dann hinter verschlossenen
Türen. Elitär? Kann man vergessen. Renais-
sance? Gibt es fast nur in Florenz. Die Tos-
cana ist derb, rustikal und bäuerlich wie ih-
re Küche, ganz und gar geprägt vom Mit-
telalter (Trecento) und dem 19. Jh. (Risorgi-
mento) .
Elitär II
An manchen Abenden versammeln sich
alle, wie durch eine seltsame Fügung ge-
steuert, in ausgewählten „Feinschmecker-
treffs“: die mondäne Toscana-Fraktion in
Kaschmir und Naturseide, die rotwangi-
gen Selbstverwirklicher und Wohlfühl-
 
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