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gern hätten und sie mit mir reden könne. Für ihren jüngeren Bruder Hans brach eine Welt zusammen, er
weinte beim Tod des Vaters bis in die Nacht. Und am nächsten Tag weinte er weiter.
ImHausdaneben wohnte Karl Radlinger,derTotengräber -derVater derRadlinger-Helene, die laut ge-
schrien hatte, dass ich sogar zum Kipferlessen zu blöd sei, als uns die dicke Pfarrersköchin an unserem
Weißen Sonntag im Pfarrhaus mit Kakao und Kipferln bewirtet hatte. Totengräber Radlinger war ein
kleiner, schmalgliedriger Mann um die sechzig, mit immer aschfahler Gesichtsfarbe und einem kleinen
Oberlippenbart. Die dürren Beine schlugen bei schneller Gangart mit den Knien gegeneinander und er
drohte mit dem Oberkörper voran umzufallen. Auch er hatte seine zwei Hektar Ackerland zu bewirt-
schaften, doch vor allem war er für drei Gemeinden der Totengräber. Das Totengräbergeschäft brauchte
erauchdringend,umzuüberleben.Seindoppelreihiger,abgewetzterschwarzerAnzugunddieschwarze
Kappe hingen immer, jahraus, jahrein, im Flur neben der Küche, stets bereit für den Ernstfall.
AmAbenddesTodesihresMannesgingdieFrau,jetztWitwe,vonJakobBieringer,dieMuttervonEm-
ma, nachdem sie das schwarze Kleid aus dem Schrank geholt, welches sie auch bei Taufen und Hoch-
zeiten angezogen hatte, zum Radlinger hinüber und bat ihn, für ihren verstorbenen Mann das Grab zu
schaufeln. Gab ihm den Lohn von hundert Schilling fürs Ausheben und Zuschütten des Grabes gleich
im Voraus.
Und dann, zwei, drei Tage später, hat er ihn begraben, den an Lymphdrüsenkrebs verstorbenen, etwas
überfünfzigjährigenJakobBieringer,denVatervonEmma,meinerEmma,dieicheinmalheiratenwoll-
te; nachdem er, Karl Radlinger, Totengräber für drei Gemeinden, ihn am Tag vor dem Begräbnis in
GettsdorfnochinseinenmitschwarzemSamtausgelegtenLeiterwagengelegthatundmitdemSargvon
obenindieKellergassehineinunddannvomunterenDorfherdieDorfstraßewiederzurückgefahrenist,
während die schwachen, kränkelnden, siechen Alten, die diesmal noch nicht im Leiterwagen mitfuhren,
mit ihren stets bereitliegenden Rosenkränzen betend an Fenstern und Türen standen.
Wenn der Totengräber Radlinger das Tor seines Hauses öffnete, konnte man an den Wänden hinter dem
Eingang Schaufeln und Spaten sowie große, langstielige Kreuze mit silbernen gekreuzigten Christusfi-
guren hängen sehen. Auch andere Grabwerkzeuge und Gerätschaften, wie schwarze Sockelkreuze aus
Holz, lederne Binderiemen, Tragbahren und schwarze Samttücher mit silbernen Sternen und Kreuzen
daraufundsilbernenBortenrundherum,warenaufgeschichtetoderandieWandgelehntundgehängt.Es
war ein Anblick, der mich mit beklommener Andacht erfüllte. Doch wenn Franz und ich den Radlinger-
KarlaufderStraßesahen,riefenwirhänselndundrespektlos:„WerandereneineGrubegräbt,fälltselbst
hinein.“
Nach jedem erledigten Grabungsauftrag ging Totengräber Radlinger in den hinter dem Haus liegenden
WeinkellerundverbrachtedortzweibisdreiStunden.ZündetedieineinemspiralförmigenLeuchteraus
dickem Aluminiumdraht steckende weiße Wachskerze an, setzte sich, nachdem er zwei Gläser mit Grü-
nemVeltlinergefüllthatte,aufdiemorscheHolzbanknebendemWeinfass,trankdasersteGlasineinem
Zug aus und stellte und drehte nun das zweite, noch gefüllte Glas in die richtige Position, um das bunte,
auf das Glas aufgemalte Bild der Gnadenkirche des Wallfahrtsortes Maria Dreieichen genau betrachten
zu können. Daraufhin wischte er, erst mit dem linken und dann mit dem rechten Zeigefinger, über den
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