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sich den Lauf des Schrotgewehrs in den Mund stecken und abdrücken, aber dann würde es ihr womög-
lich nur den Gaumen, die Zunge und die Kiefer zerfetzen, tot aber wäre sie nicht, nur ein Maulkrüppel
auf Lebenszeit.
Nachdem sie meiner Mutter ihr Herz ausgeschüttet hatte, während meine Mutter und ich unterdessen
Grießkoch mit Zucker bereiteten, verabschiedete sie sich mit feuchten Augen und ging, einen Fettfleck
auf dem Kleid und einen blauen Fleck auf der Haut, zurück in ihr Haus, in dem ihr Mann, der Poildl, sie
nichtmehrhabenwollte.VollQualertrugsieihrschlimmesLosweiter,bissieinauswegloserVerzweif-
lung eines Tages schließlich ihre paar Sachen packte und mit ihrem Sohn drei Ortschaften weiter zog,
um bei einem Bauern als Tagelöhnerin mit Kost und Quartier zu arbeiten.
Unterdessen wurde die Ursl zum zweiten Mal schwanger. Eines Sonntagvormittags lieh sich ihr verhei-
rateter Liebhaber Leopold, dessen Frau nun drei Ortschaften weiter gezogen war, das Moped vom alten
Mirkan, dem Vater von der Ursl, um nach Ziersdorf zum Feuerwehrfest zu fahren. An der Kreuzung
beim Friedhof in Gettsdorf - eine sehr gefährliche, unfallträchtige Kreuzung - war er beim Linksabbie-
gen unachtsam. Der Fahrer eines entgegenkommenden, mit Kies beladenen Lastkraftwagens sah ihn zu
spät und überfuhr ihn frontal. Er war sofort tot. Als die an der Straße wohnende alte Frau die Rettung
verständigte, sagte sie belustigt dazu: „In der Woche kracht's schon zum dritten Mal.“ Der Krankenwa-
gen ist auch schnell gekommen, doch konnten die Sanitäter nur noch den zerdrückten Körper bergen,
dessen aus der geplatzten Bauchdecke quellenden Därme lediglich durch die feste Jacke zusammenge-
halten wurden. Der Schädel war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und das rot-weiß lackierte Puch-
Moped MS 50 völlig verbogen.
Heute, an dem wunderschönen Samstag, an dem ich mit meinen kobaltblauen Scherben zusammen mit
Franz, Mitzi und der Schickler-Gerti Tempelhüpfen gespielt habe und auf einem Bein von der Hölle
über das Fegefeuer in den Himmel gesprungen bin, sitzen auch der alte Mirkan, der nun kein Moped
mehrhat,undseineFrauvormHaus.IhreTochter,dieUrsl,dazwischen.DersechsWochenalteGottlieb
schläft im Kinderwagen in der goldenen Abendsonne.
Nach dem Kirchgang leerte er den Toilettenkübel
Dem alten Schickler, dem Vater vom Schickler-Ferdl, der den Leopold und die Ursl in der Schutzhütte
drobenaufdemBergimWeingartenbelauschthatte,warenwegeneinesunheilbarenWundbrandesbeide
Beine im unteren Drittel des Oberschenkels abgetrennt worden. Mit fünfundsechzig Jahren war er ein
Pflegefall. Manhatteihnindie„Ausnahme“ausquartiert, dieUnterkunftfürsieche,alteMenschen.Sei-
neFrauundihrimHausgebliebenerSohn,derdumpfeFerdl,VatervonGerti,wolltenihnimHausnicht
länger ertragen.
In seiner winzig kleinen Ausnahmekammer, vom Hof aus gegenüber dem Misthaufen gelegen, hatte der
alte Schickler alles, was er in den Augen seiner Frau und seines Sohnes als Krüppel brauchte. Ein Bett
aus braunem Eichenholz, in dem ein durchgelegener Strohsack eine tiefe Grube bildete, über die ein
gelb-graues durchgewetztes Leintuch gebreitet war. Die Federn in der Tuchent, dem Federbett, waren
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