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Saal in großer Eile räumen zu lassen. Das langersehnte Tanzvergnügen musste frühzeitig beendet wer-
den.
Unter Protestrufen und Gewaltandrohungen versammelten sich die schon mehr oder weniger betrunke-
nen Burschen und Bauern, die ihre bereits in die Wege geleiteten Liebesabenteuer jetzt endgültig dahin-
schwindensahen,zusammenmitdenübrigenBallbesuchernamAusgang,umüberdieschmalemorsche
Holzstiege, die an einem kleinen hölzernen, ebenfalls morschen und verwitterten Aufbau an der Außen-
mauer angebracht war, zur ebenen Erde hinunterzugelangen. Trotz der kalten Februarnacht wollten die
BauernundBurschennochlangenichtnachHausegehen.InverschiedenenWeinkellernfandensienoch
Gelegenheit weiterzutrinken, bis der Morgen schon graute.
Einer der Bauern aus dem Dorf hatte es nicht mehr bis nach Hause geschafft und war in den Graben
neben der Straße gefallen. Das Rinnsal im unteren Teil des etwa zwei Meter tiefen Wassergrabens war
miteinerdünnenEisschichtbedeckt.DieWuchtdeshinunterrollendenschwergewichtigenManneshatte
dasdünneEisbrechenlassenundseineBeinelagennun,dieFüßevoraus,imfrostigenWasser.Derstark
betrunkene Mann hatte gar nicht recht bemerkt, wie ihm geschah. Hose, Schuhe und sogar die dicke
Lodenjacke hatten das kalte Eiswasser in sich aufgesogen. In der rechten, aus dem Wasser greifenden
Hand hielt er, fest umklammert, ein zerrissenes Plastiksackerl, auf dem in einer schon leicht verwisch-
ten blauen Schrift das Wort „Konsum“ stand. Aus den Rissen des Plastiksackes schaute ein Stück helle
Hutkrempe mit rotem Band und roter Feder heraus, das Band mit goldenen Pailletten benäht. Beim Fall
in den Graben waren die Knöpfe seiner dicken Lodenjacke aufgesprungen; einer war abgerissen und lag
nun auf einem Stück zerbrochener Eisscholle neben dem Kopf des betrunkenen Mannes.
Es begann leicht zu schneien. Sein graugrüner Steirerhut lag nahebei, mit der Innenseite nach oben. In
dasInneredesHuteswareinzerschlissenes, verblasst grünesundaufeinerSeite abgerissenes rechtecki-
ges Stück Seidenstoff genäht, das die Aufschrift „Pichler, k.u.k. Hof-Hutfabrik“ trug, nun aber unter der
dünnen Schneeschicht, die sich wie feiner Zucker über den gesamten Körper des nass undreglos liegen-
den Mannes legte, zu verschwinden begann.
Alle Dorfbewohner kamen mit einer weißen Lilie
Zweimal im Jahr besuchte uns die Hildatant'. Sie machte den zehn Kilometer weiten Weg von Straning
in unser Dorf zu Fuß. Von ihren neun Söhnen durften immer nur zwei mitkommen. Diesmal waren Fer-
dinand und Leopold an der Reihe. Tante Hilda war die Schwester meines Stiefvaters. Doch mit dem
Charakter meines Stiefvaters hattesienichtsgemein.Siewarmildundgut.AlleihreneunSöhnebehan-
delte sie gleich. Jedem einzelnen schenkte sie ihre Liebe so, als wäre er ihr einziges Kind. Den kleinen
Zwischenraum zwischen den beiden vorderen Schneidezähnen oben habe ich von ihr geerbt - und das,
obwohl wir doch überhaupt nicht miteinander blutsverwandt waren. Eine alte Mär besagt, dass eine sol-
che Lücke ein Zeichen von Gutmütigkeit darstelle. Bei ihr stimmte das jedenfalls. Ihre milden Gesichts-
züge liebte ich. Sie waren mir so vertraut.
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