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Hermine schrie laut aus dem Haus und über den Hof: „An Doktor, an Doktor brauch ma!“ Als sie mich
auf der anderen Straßenseite sah, rief sie: „Hilfe, Hilfe!“, und schickte mich schnell nach Gettsdorf in
die Mühle, weil die dort einen Telefonapparat hatten - sie sollten den Dr. Meinrath in Ziersdorf anrufen.
Ich rannte, was mich meine Beine trugen, ein anderes Fortbewegungsmittel stand mir nicht zur Verfü-
gung. Mit dem Doktor kam auch gleich der Rettungswagen, der den schwer verletzten Alfred nach Hol-
labrunninsSpitalbrachte.HerminewarganzverzweifeltundfragtedenDoktorimmerwieder:„Wirder
durchkommen, wird er überleben?“ Sie selbst musste auch mit ins Krankenaus, um ihren gebrochenen
Arm eingipsen zu lassen. Abends um neun bekam sie dann Nachricht, dass ihr Mann gestorben war -
mit achtundvierzig Jahren.
Bald darauf ist dann also der Sandiger-Sebastian, der Bruder von Helmuth, der die Wirtschaft des alten
Sandiger übernommen hatte, bei der um zehn Jahre älteren Hermine eingezogen. Anfänglich war er nur
am Tag als Knecht im Witwenhaus und ging nachts wieder zurück in sein Familienhaus. Einige Mona-
te später aber ging er dann nicht mehr zurück und schließlich blieb er ganz bei der schwergewichtigen
Hermine.
Seit dem Tod ihres Mannes wurde Hermine immer dicker und bekam Wasser in den Beinen und bald
auch Venengeschwüre. Ulcus cruris venosum , sagte der Arzt. Offene Beine. Jeden Tag musste sie die
Beine mit brauner Salbe einschmieren und mit Leinenfaschen umwickeln. Wenn sie mit dem Einbinden
fertig war, schnitt sie mit der Schere das Ende des Leinenverbands in der Mitte ein, riss ihn auf einer
LängevonetwadreißigZentimeternauseinanderundrolltedasaufgerisseneEndezuzweiSchnüren,die
sie nun um das Bein herumwickelte und zusammenband. Dann war das andere Bein an der Reihe. Nur
mit sehr viel Mühe konnte sie sich mit ihren geschwollenen, offenen Beinen auf dem Weg vom Haus
zumFeldfortbewegen -stetsmiteinemRechenodereinerHeugabelalsGehhilfe.MitkurzenSchritten,
FußvorFuß,setzten ihredicken,zylinderähnlichen, festumwickelten Beinedenganzengroßen,koloss-
artigen Körper in Bewegung, während die abgegriffenen, schmutzigen Verbandsbinden an den oberen
Enden, wo sie nicht mehr ganz so fest saßen, hin und her wippten.
WährendderErnteimSommerhatteHerminenurwenigZeit,undsobliebendieLeinenfaschenoftzwei
oder drei Tage an ihren Beinen, ohne gewechselt zu werden. Die braune Salbe und das Blut sickerten
dann durch, und es waren verschiedene kleine und größere rostbraune Flecken auf den Binden zu sehen,
wie die Umrisse fremder Länder auf einer Landkarte. Auch roch es stark nach der Salbe und nach den
eitrigenWunden.WennsiedraußenaufdemFeldwar,bereitetesiedieJause,indemsieeineBlechschüs-
selnahm,leichtenWein,ZuckerundgeschnitteneHasenbrotstückehineingab,dasGanzedannumrührte
und es den Arbeitern zur Stärkung auf den roh gezimmerten Holztisch stellte. Nach dieser Tätigkeit des
Jausebereitens setzte sie sich mit Ächzen, Stöhnen und Schnaufen ins Gras, löste die Binden und hielt
die wunden Beine in die Sonne, und dabei schlief sie manchmal ein und die Schmeißfliegen krochen
auf den kraterähnlichen nässenden Wunden der Beine herum. Wenn sie wach wurde, beobachtete sie lä-
chelnd mit verzücktem Gesichtsausdruck die dicken Schmeißfliegen, wie sie possierlich ihre vorderen
dünnen Beinchen in schneller Bewegung aneinanderrieben.
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