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Gesicht mit beiden Armen und Händen und schrie mit bebender Stimme, so laut er konnte, kaum ver-
ständliche Wörter: „Nicht schießen, nicht erschießen! Krieg aus, vorbei, keine Bomben, keine Bomben
…“ Er drückte sich dabei in die hinterste Ecke seiner kleinen Kammer und zitterte am ganzen Leib so
stark,dasssogardiewenigenZähne,dieernochimMundhatte,hörbaraufeinanderschlugen.Wirwaren
darobselbstsoerschrocken, dasswirunsdieMaskensofortwiedervomKopfrissen,denaltenSandiger
zu beruhigen versuchten und uns für diesen teuflischen Spaß entschuldigten. Als er uns erkannte, hörte
sein leises Wimmern und Schluchzen allmählich auf, und unter Tränen sagte er, dass wir uns gar nicht
vorstellen könnten, was er im Krieg alles erlebt und mitgemacht habe.
Dreimal habe er vor einem Erschießungskommando gestanden, erzählte er, und das gehe nicht aus
seinem Kopf. Dabei presste er die Hände so fest an Kopf und Ohren, dass sich die vom Rauch der
Austria-3-Zigaretten dunkelbraun verfärbten langen Nägel seiner verkrampften Finger in seine schlaffe
Gesichts- und Kopfhaut bohrten.
Ulcus cruris venosum
Helmuth Sandiger, der mit Irma, seiner auf dem rechten Auge schielenden, schwerhörigen Frau, die
Wirtschaft des alten Sandiger übernommen hatte, hatte einen Bruder, Sebastian, der sich nach dem tra-
gischen Tod des Mannes von Hermine Debringer als Knecht bei ihr bewarb. Die beiden kannten sich
schon seit Kindertagen, weil ihre Wohnhäuser nebeneinanderstanden.
Eines Tages hatte Alfred Debringer, Hermines Mann, auf dem Viehmarkt in Ravelsbach für besonders
wenig Geld vier Kühe gekauft. Eine davon bekam zwei Wochen später die Maul- und Klauenseuche
undschon bald hatte sie die anderen drei mit der bösartigen Krankheit angesteckt. Der Alfred Debringer
wusste, dass diese Krankheit nur selten auf ältere Menschen übertragen wird, und in der Zeit, während
er auf den Veterinär wartete, der die Kühe zur Schlachtung abholen sollte, pflegte er die Tiere, so gut es
ging. Die Euter der Kühe waren schon rot und wund und an den Zitzen löste sich die Haut ab. Sie ga-
ben auch keine Milch mehr. Auf den Schleimhäuten im Maul der Kühe bildeten sich große Aphthen, die
platzten, und die Kühe konnten nicht mehr fressen. Als der Alfred mit beiden Händen das schäumende
und trenzende Maul einer Kuh aufriss - seine Frau Hermine sollte ihr Heu hineinstopfen -, empfand die
Kuh so starke Schmerzen, dass sie wild um sich keilte. Von einem Huftritt getroffen, flog die schwer-
gewichtige Hermine durch die Stalltür in den Hof und brach sich den rechten Arm. Der Alfred aber war
noch zwischen den Kühen, und die drei anderen nicht minder kranken und rebellischen Kühe schlugen
nun mit ihren entzündeten Hufen voller aufgeplatzter Blasen so kräftig aus, dass sie den Debringerbau-
ern mehrmals mit voller Wucht trafen - in den Magen, in die Rippen, auf den Kopf.
Alssiedieverzweifelten Hilfeschreie ihresManneshörte,rappeltesichHerminewiederauf,ginginden
Stall zurück und zog den am Boden Liegenden mit der linken, noch gesunden Hand unter Aufwendung
all ihrer enormen Kraft aus dem Stall und schleifte ihn in die neben dem Stall gelegene Kammer. Das
Blut rann dem Alfred aus Mund und Nase und der rechte Augapfel quoll aus der Augenhöhle hervor.
Leises Wimmern und Jammern konnte sie hören, richtige Worte brachte ihr Mann nicht mehr heraus.
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