Travel Reference
In-Depth Information
Meine Mutter schärfte uns noch ein, ja gut die Tür zu verschließen und den Schlüssel auf die Küchen-
fensterbank zu legen, den Fensterriegel aber nicht zuzudrehen, damit sie nach der Rückkehr das Fens-
ter aufziehen, den Schlüssel nehmen und aufschließen könne. Vom Hof aus rief der Stiefvater noch ins
Haus, dass wir ja keine Dummheiten machen und nichts anstellen sollten, sonst würde es Hiebe mit der
Weidenrute setzen. Das war seine letzte Drohung vor der Abfahrt.
Endlich der ohrenbetäubende Lärm des Zweizylindermotors, Rauchwolken, Benzingestank, und weg
waren sie. Ich verfolgte noch das immer leiser werdende Motorengeräusch, bis sie aus dem Ort waren,
und schloss dann die Eingangstür zu.
Das Hasenbrot mit dem geräucherten weißen, nur ein wenig von rötlich-braunen Fleischfasern marmo-
rierten Speck, den ich mit rotem ungarischem Paprika bestreute, schmeckte auf dem etwas muffig rie-
chenden Holzbrett, das meine Mutter bei den vazierenden rumänischen, bulgarischen oder kroatischen
Zigeunern mit ihren sonderbaren bunten Kleidern gekauft hatte, besonders gut. Für meine Schwester
und mich waren die Stücke heute größer als je bei der Zuteilung des Stiefvaters. Ich holte den kleinen
Rest des auf der Fensterbank stehenden Rotweins in der Hoffnung, der Stiefvater habe vergessen, dass
er ihn dort zurückgelassen hatte. Es war so wenig, dass es nur ein paar Tropfen für jeden von uns waren.
Wir berieten, ob wir die fünfzig Meter zum Keller hinübergehen sollten, um mehr und frischen Wein zu
holen, doch hatten wir Angst, und uns fehlte der Mut, sie zu überwinden. Gemacht hätten wir es schon
gerne. Der graue Schäferhundmischling Treff lag unter dem Tisch und hätte uns auf dem Weg durch die
Dämmerung beschützen können.
Inzwischen wurde es draußen immer dunkler, beinahe finster, es herbstelte. In der Stille hörten wir das
leiseKnisternundKnackendesHolzfußbodens.BekamenunwohligeGefühleundÄngstlichkeitstiegin
uns auf. Doch die Freude über die befehlsfreie Zeit, den anordnungsfreien Abend, das gemütliche Bei-
sammensein ohne Drohungen überwog. Einige der wenigen glücklichen Stunden.
Die süßen Trauben und der kirschrote Mund
Jedes Haus in unserem langgestreckten Hundertseelendorf hatte einen Garten vor oder hinter dem Haus.
Meine Mutter hatte großblütige Gladiolen gepflanzt, in Weiß, Rosa und Lila, mit oftmals sattem Dun-
kelrot im Innersten der Kelche. Dazu rote, weiße, orangefarbene und zweifarbige Papageientulpen, Ger-
bera, Steinnelken mit dunkelroten, hellvioletten oder zweifarbigen gezackten Blütenblättern, wilde dun-
kelrote, kurzstachelige Rosen, große, hochstielige Sonnenblumen und mannigfaltige Sorten von Stief-
mütterchen inherrlichsten Farben, blau undgelb. Dahinter lagen die Beete mit Gewürz- undSchlangen-
gurken, gebogen wie riesige Regenwürmer. In der Sonne prangten Erdbeeren, rot und kinderfaustgroß,
währendandere,dieimSchattenderausladendendreigeteilten,gezacktenBlätterkeineSonnebekamen,
grünundverkümmertkleinblieben.SträuchermitRibiselnundHimbeeren,dunkelrosabisviolettrotun-
terdenüppigenhellgrünenBlätternversteckt.Staudenmitprallen,vollrotenTomaten,diewirParadeiser
nannten, hellgrüne Fisolen - Bohnen -, bis zwanzig Zentimeter lang und mit knubbeligen Ausbuchtun-
gen, die an vollgefressene Riesenschlangen erinnerten, die hintereinander mehrere kleine Nagetiere ver-
Search WWH ::




Custom Search