Travel Reference
In-Depth Information
überprüfte, ob auch die Antriebskette gut gespannt war, damit sie nicht während der Fahrt vom Zahnrad
sprang, trat das alte Motorrad sodann ein paarmal an, und irgendwann lief das Werkel, so dass sich im
ganzen Haus undüberall im Hofder Gestank vonBenzin undverbranntem Öl verbreitete. Es überrasch-
te mich, dass er überhaupt zu einem Führerschein gekommen war, wo er doch nicht lesen und schreiben
konnte. Lediglich seinen Namen konnte er kritzeln, das hat ihm meine Mutter nach langer Zeit und mit
mühevoller Hingabe beigebracht, für den Fall, dass es einmal unumgänglich war, unter ein Dokument
seine Unterschrift zu leisten.
Fürdiese „freien“ Abende,wennmeine Mutter undderStiefvater imKinowaren,habenmeine Schwes-
ter und ich immer verschiedene Vorbereitungen getroffen. Manchmal zog sie dafür ihren hellblauen
SommerkittelanundbandroteBänderumihrelangenblondenZöpfe.Auchichschlüpftedanninmeine
kurze lederne Latzhose und dazu trug ich das rot karierte Hemd. Wir wollten diesen elternlosen Abend
genießen. Ein Abend ohne Geschrei, ohne schroffe, befehlsartige Anordnungen und ohne Drohungen
vom Stiefvater.
In der Speisekammer neben dem Schlafzimmer hatte ich etwas Speck versteckt, von dem der Stiefvater
nichts wusste. Und in der runden blechernen, braun bemalten Brotdose waren noch zwei große Stück
Brot von letzter Woche übrig. Diese alten, etwas ausgetrockneten Brotstücke hatte ich besonders gern.
Sie erinnerten mich an Hasenbrot, das vom Feld wieder zurückgebrachte Brot, an dem häufig schon die
Hasen geschnuppert hatten. Die großen Brotstücke aus der blechernen Dose hatte ich im Geiste bereits
zwischenmeinerSchwesterundmiraufgeteiltundjeweilsmitfettemweißemSpeckbelegt.InderWein-
flasche, die am Fensterbrett neben dem weiß lackierten Küchentisch mit der an den Rändern abgesto-
ßenen grün gesprenkelten Resopalplatte stand, hatte ich einen kleinen Rest Rotwein gesehen und auch
diesen in Gedanken schon genau verteilt. Es würde ein Festmahl werden.
MeineMutterzogihrschönesdunkelblauesKleidan,mitdenstoffbezogenenKnöpfenimgleichenBlau,
die schräg von der rechten Schulter bis zur linken Taille angeordnet waren, und dem breiten Gürtel, der
mit dem gleichen Stoff bezogen war. Der rechts und links zwei große Dreiecke bildende Kragen und die
kleinenTaschenandenHüftenerinnerteneinwenigandieKleiderderberühmtenSchauspielerinnenauf
derFilmleinwand.DazuhattesieihreinzigesPaargutebrauneSchuhehervorgeholt -diemitdemNetz-
geflecht über dem Fußrist - und für die Motorradfahrt das rot karierte Kopftuch umgebunden, das sie
auch schon bei meiner ersten, winterlichen Eisenbahnfahrt nach Gmünd zum Besuch der Tante getragen
hatte. Sie sah wieder wunderschön aus. Da kam mir, wie so oft, der Gedanke: Wie kann diese Frau mit
diesem Mann zusammenleben und ihn womöglich noch lieben?
Der Stiefvater nahm seine Baskenmütze, die er nur zu besonderen Gelegenheiten trug (etwa als er nach
demvonihmschuldhaftverursachtentödlichenPferdewagenunfallinsGefängnismusste),setztesiesich
ausGründenderAerodynamikverkehrtaufdenKopfundzogdiegroßealteFliegerbrille darüber,dieer
aus der russischen Gefangenschaft mit nach Hause gebracht hatte. Voller Stolz hatte er einmal erzählt,
dassdieseBrille daseinzige guterhaltene Erinnerungsstück voneinem abgeschossenen englischen Flie-
gersei;erhabesieinderNähederAbsturzstellegefunden,undganzimGegensatzzumPilotenhattesie
den Absturz wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden.
Search WWH ::




Custom Search