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durchzuckte es mich wie vom Blitz getroffen. Lieber Herrgott im Himmel, hilf mir, betete ich still und
inbrünstig weiter vor mich hin. Und hilf dem Emmerich.
DochderEmmerichwarimmernochaufdemHolzbalkenundhatteinzwischendasRadmitdemSeiler-
reicht. Jetzt griff er nach dem Seil. Offenbar wollte er daran die rund fünfzehn Meter zum Boden herun-
terrutschen.BeijederseinerBewegungengingdurchdieuntenstehendeMenschenmengeeinAufschrei,
dem ein Raunen folgte. Auf den Lippen einiger Burschen sah ich es schon blinken: In Erwartung der
Sensation, dass Emmerich herunterfiel und tot am Boden liegen blieb, hatte es ihnen den Geifer um den
Mund getrieben. Auf den sechsjährigen Bub mit dem tellerähnlichen Gesicht wartete dann das finstere,
kalte Grab, in dem nun sein Großvater seine Ruhe gefunden hatte, nachdem er jahrelang beinamputiert
in der Ausnahmekammer mit dem winzigen, teils zerborstenen Fensterchen im Siechtum gelegen und
meist vergeblich um Hilfe gebrüllt hatte.
Der Feuerwehrhauptmann Josef Müller war schon zur Stelle und ordnete an, dass aus Ziersdorf das
Sprungtuch geholt werden solle, um den Emmerich auffangen zu können, falls er herunterfiel. Doch um
das Sprungtuch die drei Kilometer aus Ziersdorf zu holen, brauchte es seine Zeit. Der Pfarrer Gregor
Bolognia wiederum bat mich, ebenfalls für den Fall, dass Emmerich herunterfiel, den schwarzen Minis-
trantenrock anzuziehen und aus der Sakristei das geweihte Öl, eine Kerze, das Kruzifix und Weihwasser
für die Letzte Ölung zu holen. Der dumpfe Schickler-Ferdl, der Vater von Emmerich, hatte sich in der
Zwischenzeit ein Krügel Bier aus dem Wirtshaus geholt und fluchte, weil er nicht in Ruhe im Wirtshaus
sein Bier trinken konnte. Mit dem dummen Sohn hat man nur Scherereien, sagte er in einem fort.
In Abständen unterbrachen die alten Frauen ihr Gebet und riefen im Chor: „Emmerich, geh zurück, geh
zurück.“ Die alte Peterka zog, indem sie tief in der Tasche wühlte, was ihren Buckel noch ausgeprägter
werden ließ, aus ihrem grau gestreiften langen Kittel noch einen zweiten Rosenkranz und gab ihn mir in
dieHand,alsichnunmitKerze,Kreuz,WeihwasserundÖlnebenihrstand.IchsolleauchzumHerrgott
und zur Jungfrau Maria beten, dass dem Emmerich nichts passiere, er sei mit seiner geistigen Krankheit
und Blödigkeit schon genug gestraft, meinte sie und schaute mich mit ihren rot unterlaufenen Tränensä-
cken unter den Augen treuherzig und mildtätig an. Die Hoferbäuerin aus Minichhofen stand neben mir
und während sie immerfort an ihrem bunten Sonntagskleid zupfte und den grünen, breitkrempigen Hut
zurechtrückte, der mit einer doppelten weißen, zu einem Zopf geflochtenen Schnur geputzt war, an der
an den Enden eine Fransenquaste hing, sagte sie in abfälligem Ton: „Die Mutter kümmert sich gar net
um ihr blödes Kind.“ Am liebsten hätte ich ihr gleich eine Watschen gegeben, wusste ich doch, dass die
Mutter hochschwanger mit Wehen im Hause, das schräg gegenüber von unserem stand, im Bett lag und
zusammenmitderHebammeaufdieGeburtihresnächstenKindeswartete.DerFerdl,EmmerichsVater,
stand noch immer mit dem Krügel Bier da und fluchte. Er wollte zurück ins Wirtshaus.
MiteinemlautenkieksendenSchreihatteEmmerichnunendlichdasSeilmitbeidenHändenerfasstund
versuchte, während er mit seinem schmalen, speicheltriefenden Mund lachend unverständliche Worte
rief, sich langsam, Stück für Stück und Hand für Hand, daran herunterzulassen. Lieber Herrgott, sagte
ich zu mir, danke, dass du mich erhört hast.
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