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fresken gut erreichen zu können, stellte die Baufirma Wattiger aus Ziersdorf auf der rechten Seite des
Kirchenschiffes große Gerüste auf, die ganz bis zum Plafond reichten und mit einer steil aufragenden
Leiter zu besteigen waren. Am obersten Fenster der Kirche war auf dem Gerüst ein breiter, dicker Holz-
balken verankert, der etwa zehn Meter waagrecht aus dem Fenster nach außen ragte, damit über einen
Flaschenzug alle benötigten Materialien in Blech- und Holzkübeln die etwa fünfzehn Meter nach oben
befördert werden konnten.
Die Hochamtsmesse am Pfingstsonntag war bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst im Vorjoch der Kir-
che standen die Männer bis zum großen Eingangsportal - meist jene Männer, die es nach der Messe be-
sonderseilighatten.DarunterderdumpfeundleichtbeschränkteSchickler-Ferdl,derheute,zurPfingst-
messe,seinenSohn,dengeistigbehindertenEmmerichmitgenommenhat,einlebenslustiges,mongoloi-
des Kind. Die Mutter, Fanny Schickler, die sich in anderen Umständen befand, war heute am Kirchgang
verhindert. In einer der Ecken im Vorraum der Kirche standen die beiden. Der kleine, sechsjährige Em-
merich war eingezwängt zwischen den vielen Bauern in braunen und schwarzen abgewetzten Sonntags-
anzügen oder grünen und grauen Steireranzügen und konnte nichts sehen. Es war ihm langweilig. Ohne
dass dieser es merkte, löste er sich von seinem Vater, der mit krummem, leicht nach vorn gebeugtem
Oberkörper, leerem Blick und vom vielen Rauchen schwerem, rasselndem Atem neben ihm stand und
seinen Sohn nicht beachtete, lief hinein ins Kirchenschiff und setzte sich neben mich. Er kannte mich
gut, schließlich waren wir Nachbarn und unsere Häuser lagen schräg gegenüber voneinander.
NachderKommunion,dieamheutigenFesttagsehrlangedauerte,sangdieGemeindenochdasSchluss-
lied: Komm herab, o Heiliger Geist, der die finstre Nacht zerreißt … dann erhoben sich, während Herr
Molder an der Orgel noch die letzten feierlichen Akkorde spielte, die Gläubigen in ihren Bänken, be-
wegten sich Richtung Mittelgang, knieten sich im Hinausgehen noch einmal neben ihrer Kirchenbank
nieder, machten das Kreuzzeichen und verließen das Gotteshaus. Manche verharrten auch noch für eini-
ge Minuten in stiller Demut in ihren Bänken.
Derkleinelebensfrohe,geistigbehinderteEmmerichsagteinkurzenAbständenzumir:„Kraxln,kraxln,
kraxln“, und schaute dabei auf das neben uns stehende Gerüst, das bis hinauf zur Decke mit den ver-
gilbtenunddaherrenovierungsbedürftigenFreskenreichte.DiegläubigenChristenundsonstigenKirch-
gänger strömten nach draußen, und wer nicht gleich ins Wirtshaus verschwunden war, versammelte sich
noch auf dem Kirchplatz, um sich die Neuigkeiten der vergangenen Woche zu erzählen. Emmerich und
ichaberwarennochinderKirche,undnunnahmermichbeiderHandundsagteimmerwieder„Kraxln,
kraxln“, dabei lachte er über sein ganzes flachrundes Gesicht, während ihm kleine Rinnsale von Spei-
chel aus den leicht geröteten und entzündeten Mundwinkeln liefen, legte die Stirn in Falten, kniff die
schräg nach oben gerichteten Augen zusammen und schaute sehnsüchtig hinauf zu dem dicken Balken,
der in etwa fünfzehn Metern Höhe durch das runde Kirchenfenster hereinragte. Mit seinen kurzen di-
cken, an der ebenso kurzen breiten Hand angewachsenen Fingern zerrte er mich mit all seiner für einen
Sechsjährigen recht beachtlichen Kraft in die Richtung des Gerüstes, wobei er die Zungenspitze immer
wieder aus dem breiten, grinsenden Mund streckte. Doch als er nun merkte, dass ich aus der Kirche hin-
ausgehen wollte, ließ er mich los.
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