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den heiligen Spruch: Wir Ratscher, wir Ratscher, wir bitten zum göttlichen Gruß, den jeder katholische
Christ beten muss.
Das erste Ratschen erfolgte um fünf Uhr früh, es war noch dunkel. Meine Mutter war längst aufgestan-
denundwecktemichaustiefemSchlaf.Schnellzogichdieeiskaltenundbeinhartgetrocknetenbraunen
Strümpfe unddie Hose an, schlüpfte in die Schnürschuhe, die vom Vortag innen noch feucht waren, und
lief auf die Straße. Zum Zubinden der Schnürsenkel war keine Zeit. Ich musste mich beeilen. Alles war
kalt und dunkel. Franz wartete schon vor der Hoftür, wir gingen zusammen, weil wir doch nebenein-
ander wohnten und die besten Freunde waren, zum vereinbarten Sammelplatz vor dem Gemeindehaus.
Ich war noch schläfrig und fühlte mich ganz scheußlich und unangenehm. Bei dem zweiten Gang, zwei
Stunden später um sieben, ging es schon besser. Wenn wir Ostersonntag früh den letzten Gang mit un-
seren Ratschen machten, bekamen wir von den Dorfbewohnern etwas Geld oder Ostereier durch Tür
oder Fenster gereicht, was wir dann unter uns Buben aufteilten. Von diesem Geld gab ich meiner Mutter
gleich die Hälfte, so dass es der Stiefvater gar nicht erst mitbekam. Mutter legte es dann in das Versteck
unterdenkariertenodergestreiftenFlanellhemdenimWäschekasten,wosiedasGeldfürdiemonatliche
halbe Stange Braunschweiger Wurst aufbewahrte.
DieberührendstenTageinderFastenzeitwarendieFreitage.JedenFreitagbetetenwirinderGettsdorfer
Kirche oder in unserer kleinen Dorfkapelle den Kreuzweg. Am Karfreitag nachmittags um drei, in der
Sterbestunde Jesu Christi, beteten wir die feierlichste Andacht an allen vierzehn Stationen. Zu diesem
AnlassholteichmitdemPfarrerdieschönstenundwertvollstenStückeausdemParamentenschrank,wo
die liturgischen Gewänder und andere kirchliche Insignien untergebracht sind. Schon am Gründonners-
tag hatte ich zusammen mit meinen Freunden Franz und Max unter Zuhilfenahme von weichen Wolltü-
chern Weihrauchkessel, Hostienpokal und Monstranz mit großer Innigkeit geputzt und poliert und dabei
jeden Edelstein und jeden goldenen Strahl der Monstranz aufs Schönste zum Glänzen gebracht. Dazu
trug ich einen roten Kittel und darüber das weiße Chorkleid mit dem breiten roten Rundkragen.
Beim Karfreitagskreuzweg trug ich das lange Kreuz besonders gern. Ich fand, dass die Bezeichnung
Ministrant, abgeleitet vom Lateinischen ministrare , „dienen“, beim Kreuzweg ihre ganz besondere Be-
rechtigung hatte, und dieses Dienen sollte mich, darüber hinaus, mein ganzes Leben lang begleiten. Auf
diesem Weg, dem Kreuzweg, wollte ich Jesus ganz nahe sein, ihm dienen mit meinem ganzen Körper
und meiner ganzen Seele. An jeder der vierzehn Stationen, die jeweils in Form gemalter Bilder an ver-
schiedenen Stellen rundherum im Innern der Kirche aufgehängt waren, knieten wir nieder und beteten,
segneten mit Weihrauch und Weihwasser die Station und die Gläubigen.
Das Kreuz sollte eine Brücke sein für den Weg nach dem Tod in die andere, heiligste Welt.
Kraxln!
TrotzderRenovierungderbarockenGettsdorferKirchewurdedieheiligeMessewiegewohntjedenTag
abgehalten. Erst war die rechte Seite des Innenraums des Kirchenschiffes eingerüstet und mit Planen,
alten Säcken und Tüchern abgedeckt, dann kam ebenso die linke Seite an die Reihe. Um die Decken-
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