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alles weg. Ich schaute auf das schwarze Kreuz über dem weiß lackierten Küchentisch zu unserem aus
hellem Holz geschnitzten und gekreuzigten Herrgott auf, in der Hoffnung, dass er meine enttäuschten
Blicke sah und mir half.
Es sei ja schließlich seine Arbeit gewesen und nicht die meine, sagte der Stiefvater und ging schnellen
Schrittes, das rechte Bein infolge seiner Kriegsverletzung nachziehend, aus unserer kleinen Küche mit
dem Blick in den Hof und auf den in seiner Mitte thronenden Misthaufen. Das Geld immerhin gab er
meiner Mutter, und das tröstete mich über seine Ungerechtigkeit hinweg.
Der Herrgott hatte mir auf Umwegen doch den richtigen Weg gewiesen.
Mit einem geweihten Tuch reinigte ich das Pacificale
Die Fastenzeit vorOstern berührte mich im Besonderen. Inder Fastenzeit holte der Pfarrer Pater Gregor
Bolognia nach jedem Gottesdienst feierlich das Pacificale aus dem Tabernakel und hielt es den Gläu-
bigen zum Friedenskuss hin. Bei dem Pacificale, auch Paxtafel oder Kusskreuz genannt, handelte es
sichumeinekleinegoldene,mitEdelsteinengeschmückteStrahlenmonstranz,inderenMitteeinekleine
Hostie eingeschlossen war und über der Hostie eine Reliquie des heiligen Valentin, des Namenspatrons
der Kirche. Jeder Kirchgänger küsste nun das ihm vom Pfarrer hingehaltene Pacificale in der Mitte, wo
sich der umschlossene Leib Christi befand, und murmelte dabei „Pax Christi“. Nach jedem Kuss eines
Gläubigen hielt nun der Pfarrer mir das Pacificale hin, damit ich mit einem weißen geweihten Altartuch
kurz darüberwischte und es wieder von den Hinterlassenschaften des Kusses reinigte.
Die alten Frauen mit ihren weiten schwarzen Röcken und den tief in das gebräunte, zerfurchte Gesicht
gezogenen schwarzen Kopftüchern küssten erst die Hostie, den Leib Christi, dann die Reliquie des hei-
ligen Valentin, schlugen ein Kreuzzeichen und knieten auf den harten kalten Steinboden nieder, wobei
sie für kurze Zeit den Kopf senkten, dreimal Zeigefinger und Daumen gegen die Brust drückten und für
einen Augenblick in Demut verfielen, ehe sie wieder aufstanden, den dunklen, engen, halbrunden Gang
hinter dem Hauptaltar ins Kirchenschiff zurückgingen und in ihrer Kirchenbank erneut niederknieten,
um weiterzubeten.
Am Ende der Fastenzeit, nach dem Letzten Abendmahl am Gründonnerstag, verstummten die Glocken
und flogen nach Rom, um wieder neu geweiht zu werden. Ich hatte noch dem Pfarrer und dem Messner,
für den ich die Glocken sonst manchmal läutete, geholfen, den Hauptaltar mit violetten Samttüchern zu
verdecken. Jetzt, dadie Glocken schwiegen, hatten wirBuben die Aufgabe, ihrGeläute zuersetzen. Wir
bekamen sogenannte Ratschen, auch Holzrasseln genannt, mit denen wir in der Früh, zu Mittag und am
Abend erst von unten nach oben durch die dreihundert Meter lange Dorfstraße gingen und dann durch
die dahintergelegene Kellergasse von oben nach unten wieder zurück, um die Dorfbewohner an die Ge-
betszeiten und Messanfänge zu erinnern.
Das machten wir Ratschenbuben viermal täglich bis zum Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung des
Herrn Jesus Christus. Vor jedem dritten Haus blieben wir auf ein Zeichen des Vorratschers stehen, der
immer der Älteste von uns war. Er hielt abrupt einen Stab in die Höhe, schrie „Halt!“, und wir sagten
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