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der Max gesagt, er hatte noch ejakuliert, und nach Urin roch es auch. Ich habe später sein Grab auf dem
Friedhofbesucht.WegenseinerHasenscharteinderOberlippehattendieMädchenihnimmergehänselt,
aber deswegen hat er sich nicht aufgehängt, da war noch etwas anderes. Aber was es war, was da in sei-
nem Inneren vorging, ist niemals klargeworden.
Nach dem Selbstmord seines Bruders haben der Max und ich uns geschworen, noch mehr zusammen-
zuhalten. Dazu haben wir uns, wenn niemand zuschaute, ganz fest in die Arme genommen und unsere
Wangen aneinandergedrückt. Von da an habe ich ihm immer schon vor Beginn des Unterrichts einen
Zettel mit den Lösungen der Hausaufgaben gegeben, damit er seine Aufgaben richtig abschreiben konn-
te. Unsere Plätze haben wir in diesem Schuljahr nicht mehr gewechselt, wir wollten immer beieinander
sitzen bleiben.
In Erdkunde und im Geschichtsunterricht hat unser Lehrer, der Oberlehrer Gedesberger, besonderen
Wert aufs Auswendiglernen gelegt und auch auf fehlerfreies Schreiben. Max' Heft war nach dem Auf-
satz ganz rot von den mit roter Tinte angestrichenen Fehlern. Für jeden Fehler im Heft gab es mit der
Weidenrute einenSchlagaufdieflacheHandinnenfläche. Einmal hattederMaxübervierzigFehler,und
da habe ich dem Lehrer angeboten, die Hälfte von Max' Hieben auf meine Handfläche zu übernehmen,
worauf er aber zu Max' Leidwesen nicht einging.
Ich wusste, dass die Handinnenfläche nach etwa fünfzehn wuchtigen Schlägen schon ganz rot war. Ich
versuchte dannimmer,stattdessen die Finger hinzuhalten, damit sich derHandteller fürAugenblicke er-
holen konnte. Oft sind mir von den folgenden Hieben die Striemen der vorausgegangenen Schläge auf-
geplatzt und bluteten. Tränen schwammen mir in den Augen. Ab und zu floss eine die Wange hinunter,
aber ich wollte nicht weinen, nicht vor meinen Schulkameraden und vor all den vielen Mädchen. Ich
schämte mich. Den Oberlehrer Gedesberger focht das nicht an, er drosch weiter auf die Hand ein. Die
Lehrerin, die wir früher gehabt hatten, die Frau Kronawetter, hatte die Schläge immer mit der Gerte auf
den Hintern gegeben, das tat nicht so weh. Sie hatte auch weniger und leichter geschlagen.
Nach der Schule gingen Max und ich oft allein nach Hause. Wir hatten entgegengesetzte Richtungen zu
gehen. Ich in mein Hundertseelendorf, die Straße nach rechts, und er in das seine, die Straße nach links.
Wir bummelten ein kleines Stück zusammen und redeten darüber, wer gern mit welchem Mädchen ge-
hen würde. Ich hatte mir ja schon die Bieringer-Emma ausgesucht. Er hat die vor einem halben Jahr neu
aus der Schweiz zugezogene Else am liebsten gehabt. Oft schlenderten wir am Ravelsbach entlang, und
wenn wir nicht, wie so oft, ins Gespräch vertieft auf der Brücke stehen blieben und über das gusseiserne
Geländer ins Wasser hinunterschauten und die Fische beobachteten, gingen wir weiter, an der barocken
Kirche vorbei und manchmal rechts dahinter durch die kleine Tür in den Glockenturm. Der Schlüssel
für die Tür war unter einem Dachziegel auf der rechten Seite oberhalb des Türrahmens versteckt. Wir
wussten,woderSchlüsselwar,weilichmanchmaldieAbendglockenläutete,wennderMessnerdazuzu
betrunken war. Der Strick der größten Glocke hatte so dicke Knoten, dass wir daran schaukeln konnten,
ohne dass die Glocke zu läuten begann. Der Glockenturm hatte links und rechts je ein kleines Fenster
und die Sonne warf durch die eisenbekreuzten Fenster wunderschöne Schatten.
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