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ihr Keller. Die Eingangstür war so niedrig, dass man sich bücken musste. Es ging ein paar ausgetretene
Stufen hinunter, und dann stand da eine alte Baumpresse zum Keltern. Auf dem großen Querbalken war
die Zahl „1885“ in das Holz geritzt. Hier fühlte sie sich wohl. Wenn sie im Keller einige Gläser Wein
getrunken hatte, sagte sie „Rudl-Hudl“ zu mir. Diese Neckerei ärgerte mich so sehr, dass ich zu weinen
begann - das hat wiederum sie erfreut. Damit hat sie mich tagtäglich gequält. In diesem Dorf steckte in
jedem Bewohner ein Teufel.
Kurze Zeit nach der Weinlese gab es den Sturm, auch Federweißer genannt. Der angegorene, milchig-
trübeTraubensaftschmecktesüßlichundmanmerktedenAlkoholnichtgleich.DaswarfürdieAlteeine
gute Gelegenheit, mich kleinen Jungen betrunken zu machen. Wenn ich dann auf dem Nachhauseweg
gestolpert und gefallen bin, mir den Kopf und die Knie verletzte und blutete, lachte sie laut auf, sagte
zwischendurch immer wieder „Rudl-Hudl“, meckerte wie eine Ziege und hatte eine höllische Freude.
Anfang Mai kamen jährlich einige Imker aus Wien und stellten ihre Bienenvölker in den Garten von
Frau Seibinger, der umgeben von blühenden Wiesen und Bäumen war, übervoll mit Pollen, für die Bie-
nen ein reich gedeckter Tisch. Jeden Samstag und Sonntag kamen die Besitzer dieser Bienenstöcke, um
sie zu betreuen und zu versorgen. Dazu trugen sie große sommerliche Strohhüte mit einem dünnen Ga-
zeschleier ringsum, der sie vor den Stichen wild gewordener Bienen schützen sollte.
In dieser Zeit freundete ich mich mit einigen der Imker an, und wenn am Ende der Saison die vollen
Honigwaben geschleudert wurden, durfte ich so viel Honig schlecken wie nie zuvor, hatte ganz klebrige
Finger, ein verschmiertes Gesicht und klebende Kleidung - und hinterher einen verdorbenen Magen.
Komm zurück, sonst sag ich es deinem Vater!
Die aus dem oberen Waldviertel zugezogenen Hornbergers, jetzt im mittleren Teil des Dorfes wohnend,
hatten ihren Sohn Hermann erst im vorgeschrittenen Alter bekommen. Die werdende Mutter war, als
sich das glückliche Ereignis ankündigte, schon zweiundvierzig, und es wurde eine äußerst schwere Ge-
burt: eine komplizierte Steißgeburt. Kaum hatte die Hebamme Morgenthal das Kind unter tatkräftiger
Mithilfe des eigens aus Ziersdorf herbeigerufenen Dr. Meinrath mühevoll aus dem Mutterleib geborgen,
eröffnetesiederHornbergerin,dassderkleineKnabenicht„durchkommen“werde.Hermannwaraußer-
ordentlich klein und untergewichtig, wegen Sauerstoffmangels von bläulicher Hautfarbe, und geschrien
hat er auch erst nach einer halben Stunde. Vorsorglich ließ die Hebamme sogleich auch den Pfarrer Gre-
gor Bolognia kommen, um den Kleinen erst zu taufen und ihm dann die Letzte Ölung zu geben.
Hermann überlebte wundersamerweise, kränkelte aber all seine frühen Kinderjahre hindurch. Als er zur
Schulekam,sagtedernunüberfünfzigjährigeVaterimmer:„DasistkeinSohn,dasisteinKrepierl“,was
indiesemFalletwagleichbedeutendwarmiteinemKretin.DieHornbergerinzogdemdünngebliebenen
Körper ihres Sohnes immer viel zu große Hosen und viel zu dicke Jacken an, was ihn kräftiger erschei-
nen lassen sollte. Man will schließlich nicht zum Gespött des Dorfes werden. Ab dem dritten Schuljahr
wurde es mit dem Hermann dann besser. Er wuchs und entwickelte sich Jahr um Jahr und konnte nun,
mit siebzehn, achtzehn Jahren, die Feldarbeiten in dem kleinen, armseligen und sehr verwahrlosten Hof
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