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nahmschnelldieFüßevondenPedalen,dienunEmilnichtschnellgenugmitdenseinenFüßenerfassen
konnte, und das Gefährt fuhr fahrer- und steuerlos gegen die Mauerecke des ersten Hauses im Dorf, wo-
durch das rechte Vorderrad und die Achse beschädigt wurden. Wütend kam der Alte auf die Unglücks-
stelle zugelaufen, riss sich noch im Laufen zornbebend die Kappe vom Kopf und rief: „Enterben werde
ich dich, du Saukerl, der blöde Bub soll verschwinden.“
VondiesemTaganwardiespezielle,vertrauensvolleundeinGeheimnisbeinhaltendeFreundschaftzwi-
schenEmilundmirbeendet.Abermalsfühlteichmichschuldig,wiesooftinmeinemLeben,undsuchte
jede Möglichkeit der Wiedergutmachung. Wenn ich, zum Beispiel anlässlich der Besuche meiner Groß-
mutter mütterlicherseits, für meine kleine Sammlung neue Brausepulversackerl mit wunderschönen Ab-
bildungen von amerikanischen Straßenkreuzern bekommen hatte und dem Emil, im Wissen um sein In-
teresse für solche Nobelkarossen, bei einem zufälligen Treffen auf der Dorfstraße oder der Kellergasse
meine Neuerwerbungen zeigen wollte, wies er mich ab und beachtete mich nicht. Diese Schmach be-
leidigte mich zutiefst, erinnerte mich an mein ungeliebtes Zuhause und die Zurückweisung, die ich dort
erfuhr.
Die Fossa cubitalis und die Pfütze unter der Liege
Das Geschwür an der Innenseite meines Ellbogens, an der sogenannten Fossa cubitalis, wurde immer
größer, blähte sich mehr und mehr auf und begann stark zu schmerzen. Der Weg zu Dr. Meinrath war
unumgänglich. Montag früh zog meine Mutter ihr zweitbestes Kleid an, das dunkelgrüne mit dem brei-
ten schwarzen Kragen und den großen schwarzen Knöpfen, dazu ihre braunen Schuhe und das dunkle
Kopftuch, hängte ihre abgewetzte alte Handtasche an die Lenkstange des Herrenfahrrades, setzte mich
auf die Mittelstange und fuhr mit mir die etwa vier Kilometer zum Arzt nach Ziersdorf. Das Wartezim-
merwargefülltmitaltenFrauen,dieihrebuntenKopftücherweitindieStirngebundenhatten,mitalten
Männern mit Oberlippenbärten, speckigen Hüten auf dem Kopf und nur noch wenig Zähnen im Mund
sowie, etwas abseits, einem jungen Bauernmädchen, das ganz traurige Augen hatte und dessen lange
blonde Zöpfe am unteren Ende jeweils mit einer Plastikspange aus blauen Kornblumen zusammenge-
bunden waren.
Die Zeit des Wartens schien nicht enden zu wollen. Ein durchdringender Geruch nach Äther lag unheil-
drohend über dem Raum. Endlich war ich dran. Ich hatte Angst. Es müsse aufgeschnitten werden, sagte
Dr.Meinrath,miteinerZugsalbealleinwürdeesnichtgehen.Ichmusstemichaufeinehohe,mitgrauem
Kunststoff bezogene Liege legen, die an jedem Bein unten ein Rad hatte, dann machte der Doktor mei-
nen Arm frei und wischte mit einer stark riechenden Flüssigkeit das zur halben Größe eines Tennisballs
angeschwollene, schmerzhaft pochende Geschwür ab. Nun nahm seine Frau einen Wattebausch, tropfte
eine andere stark riechende Flüssigkeit drauf, hielt mir den Bausch an die Nase und sagte, ich solle zu
zählen anfangen.
In diesem Moment begann ich heftig zu weinen. Ich litt Todesängste. Erinnerte mich an meine im
weiß ausgepolsterten Sarg liegende Großmutter stiefväterlicherseits, die beim Tod des Großvaters noch
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