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sche, und griff zugleich, ohne überhaupt die Antwort meiner Mutter abzuwarten, nach der in ihre run-
zelige braune Haut gefüllten Stange Braunschweiger Wurst, schlug mit dem gleichen Messer, mit dem
er vorher das Schweinskarree zerteilt hatte, die Wurst in der Mitte durch, rollte die größere Hälfte in
weißes Pergamentpapier ein, auf dem in hellblauer Schrift „Fleischhauerei Gustav Speidler“ stand, und
drücktesiemeinerMutterindieHand.SeineFrau,mitfrischgelegtem,hellblondemHaar,standderweil
neben ihm hinter der anderen Glasvitrine, in der verschiedene Würste wie Holzscheite aufgeschichtet
lagen, nahm die Stange Extrawurst aus der Vitrine, schnitt eine dünne Scheibe ab, rollte sie zu einem
Stanitzel,reichtemirdiesesWursttütchen,dasichgerneentgegennahm,undfragte,eheichnochvonder
Fleischwurstscheibe abgebissen hatte, mit gespitztem Mund: „Schmeckt's?“
Manchmal musste meine Mutter allerdings auch vorzeitig etwas von dem für die halbe Stange Braun-
schweigerWurstbeiseitegelegtenGeldnehmen,um -daEilevonnötenwarnunnichtbeimFleischhauer
Speidler,sondernbeimGreißlerKnötlergleichgegenübervonunseremHaus -etwasWurstundKäsezu
kaufen und damit meinen Stiefvater, wenn er in den Keller ging, um sich zu betrinken, von seinem wie-
der einmal angekündigten Selbstmord abzubringen, den er dann doch nie vollbrachte. Vermutlich hätte
er sich auch dann nicht umgebracht, wenn sie ihm keine Wurst und keinen Käse gekauft hätte. Doch
wenn er ihr in dem der Selbstmordankündigung stets vorausgehenden Streit erneut ihren „Fehltritt“ vor-
geworfenhatte,kränkteerdamitmeineMuttersosehr,dasssiealles inihrerMachtStehende tunwollte,
um ihn umzustimmen.
Bei Tante Mitzi in Krems war alles anders, feiner, besser, schöner als zu Hause in unserer Küche mit
dem Blick in den Hof und auf den in seiner Mitte thronenden Misthaufen. Unsere Schlafstätten richtete
sieimhinterenZimmerein.HierzudienteihreinedickeMatratze,diesieausdemHotelnebenanausge-
liehen hatte. Wollten wir auf die Toilette, so mussten wir auf einem kalten steinigen Weg durch den Hof
bis ganz nach hinten gehen, und die Tante ging mit einer Kerze voraus, die in einem über und über mit
Wachs vollgetropften Leuchter stak, um uns zu leuchten, damit wir nicht stolperten oder in das Plumps-
klo hineinfielen. Ein kleines Loch, wie zu Hause die Kindertoilette, die der Stiefvater einmal an einem
seltenen Tag ungewöhnlich guter Laune gezimmert hatte, gab es hier nicht, nur das große Loch.
Doch während der drei Tage bei Tante Mitzi vermisste ich überhaupt nichts. Noch viele Jahre später
wurde es mir warm ums Herz, wenn ich mich an den abendlichen Spaziergang durch die Stadt mit den
beleuchteten Schaufenstern zurückerinnerte. Als wir, satt und zufrieden, nachdem wir das Erdäpfelpü-
ree mit gebratenen Wurstscheiben gegessen hatten, an diesem ersten Abend durch die Obere Landstraße
flanierten, gab es da ein Spielzeuggeschäft mit elektrischen Eisenbahnen im rechten Schaufenster, wäh-
rend das linke Schaufenster für die Mädchen mit Puppen dekoriert war, die so groß wie echte, lebendige
Kinder waren, auch echte Haare und große blaue Augen hatten. Meine Schwester kam aus dem Stau-
nen nicht mehr heraus. An der Seite dieses Schaufensters gab es einen kleinen Schlitz, in den man eine
Zehngroschenmünze einwerfen konnte, und dann begann die Puppe mit dem weiten roten Rüschenkleid
und den großen blauen Augen zu sprechen. Dreimal hintereinander sagte sie abwechselnd „Papa“ und
„Mama“, was man dank dem oberhalb des Schaufensters angebrachten Lautsprecher gut hören und ver-
stehen konnte, und dazwischen schlug sie ihre Augenlider auf und zu.
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