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Während der Arbeit der Bauern auf dem Feld lag dieses Brot in Leinen- oder Jutetaschen unbeachtet
neben der Jausenhütte, wo es von den herumhüpfenden Feldhasen beschnuppert wurde. Vor dem Nacht-
mahl sprachen wir immer ein Tischgebet, das schenkte eine reine, neugeborene Seele. Auf alle meine
Fragen bekam ich von Frau Millinger stets freundliche Antworten - anders als zu Hause.
Manchmal kam auch die alte Mariedl zum Nachtmahl. Sie wohnte gegenüber allein, in dem kleinen
Zweizimmerhaus in der Kellergasse. Auf der linken Seite ihres Rückens hatte sie einen Buckel. Als sie
noch ein Kleinkind gewesen sei, so erzählte sie, habe ihr Großvater sie beim Spielen vom Heuwagen
gestoßen, dabei brach sie sich das linke Schulterblatt. Der großen Schmerzen wegen konnte sie fortan
nichtmehrodernurmitgrößterMühegeradesitzen.DerLehrerinderSchulehabesieimmerwiederer-
mahnt:„Mariedl, sitzgeradeundnichtsokrumm.“Dochsobaldsiesichunbeobachtet wähnte,setzte sie
sich wieder ganz krumm, zur Linderung der Schmerzen, und so verwuchsen die gebrochenen Knochen
im Laufe der Jahre zu einem Buckel. Der Buckel ließ sie schrumpfen, kleiner undschmächtiger werden.
Die in ihrer Jugend blonden Haare, die sie zu einem Knoten gebunden trug, waren längst grau, stumpf
undschüttergeworden.ZuihremBuckelaufderlinkenSeitewarspäternocheineganzseitige Lähmung
der rechten Körperhälfte hinzugekommen. Seitdem konnte sie sich nur noch mühevoll fortbewegen und
waraufnachbarschaftlicheHilfeangewiesen.Eswurdenichtbesser,eherschlechter.Dr.Meinrathsagte,
ein Pflegeheim wäre für die alleinstehende Frau das Beste.
In ihrer Verzweiflung begann die tiefreligiöse Katholikin eine Novene zum barmherzigen Gott zu beten.
NeunTagelang -daherderNameNovene -betetesie,morgens,mittags,abends,nachts.Wennsiemich
durch die Kellergasse gehen sah, rief sie: „Komm herein zu mir und bete mit mir, wenn wir beide beten,
dann hilft's mehr.“ Ich ging jedes Mal hinein in die kleine dunkle, nach Lavendelkissen und Medizin
riechende Kammer, kniete mich in die Ecke, schaute auf das Kruzifix und dachte dabei an meine Mut-
ter, die, so wie ich, unter ihrem Mann, meinem Stiefvater, schwer zu leiden hatte. Erst beteten wir ein
Vaterunser und drei der Geheimnisse des glorreichen Rosenkranzes, dann sprachen wir Gebete an den
barmherzigen Gott und zum Schluss folgten noch die restlichen zwei Geheimnisse des glorreichen Ro-
senkranzes.
Selbst mitten in der Nacht stellte Mariedl ihren laut tickenden, großen runden weißen Junghans-Wecker
mit den phosphoreszierenden Leuchtziffern und der verchromten schrillen Weckglocke, um auch des
Nachts das Beten nicht zu vergessen. Einmal pro Stunde klingelte er, um sie zu wecken, damit sie beten
konnte. Wenn ihre Müdigkeit übergroß wurde, stellte sie den Wecker in einen blau-weiß emaillierten
Blechteller und legte zusätzlich metallenes Essbesteck hinein, damit es noch lauter rasselte und schep-
perte und sie nur ja ihre Gebetszeit nicht verschlief.
Auf beiden Seiten des Weckers stand je ein Votivbild aus der Wallfahrtskirche Mariazell: links die Mut-
tergottes mit dem toten Sohn auf dem Schoß und rechts der kreuztragende, dornengekrönte Christus.
Wenn sie nicht im Bett betete, lehnte sie sich mit der nicht gelähmten, buckeligen linken Körperhälfte
gegen die Wand, um unter enormen Schmerzen zum Kruzifix in der Küchenecke zu beten. Tag für Tag,
Nacht für Nacht betete sie. Stunde für Stunde. Am neunten, dem letzten Tag der Novene versuchte sie
wie jeden Tag, den gelähmten Arm oder das gelähmte Bein zu bewegen. Wieder und wieder versuchte
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