Travel Reference
In-Depth Information
einer kurzen schwarz-glänzenden, modischen Klothhose bekleidet - eine Art Turnhose, die wir „Glatt-
hose“ nannten - unter der Traufe am Ende der Dachrinne im Hof. Eine Naturdusche. Dem drahtigen,
groß gewachsenen Burschen machte es richtig Freude, vom Scheitel bis zur Fußsohle durchwässert zu
werden. Bei den trotz des heftigen Regens noch hohen Temperaturen tat so ein erfrischendes Dusch-
bad einfach gut. Das Wasser ergoss sich wie ein Gebirgsbach auf seine breiten Schultern, den stählernen
Rücken und über die glatte, unbehaarte Brust des jungen Mannes. Wahrlich ein Adonis.
Trotz seines beeindruckenden Aussehens fand der sehr wortkarge Bursch lange kein weibliches Wesen,
dasmitihmzusammenseinwollte.SelbstinGegenwartderschönstenMädchenundFrauen,dieihmbei
der Feldarbeit und im Dorf begegneten und zu Hilfe waren, veränderte er nie den versteinerten, starren
Ausdruck seines leicht pockennarbigen Gesichts. Erst viele Jahre später begegnete ihm seine Liebe in
GestaltvonTheresa:einhübschesblondes,mitfeinenZügenausgestattetesStadtmädel.Wennsielachte,
erinnerte sie an die bayrische Prinzessin Sissi, die spätere Braut von Kaiser Franz Joseph. Theresa ging
von Haus zu Haus, um den Bauern Mastfuttermittel für Schweine und Hühner zu verkaufen. Als sie auf
Georg traf, war es das, was man „Liebe auf den ersten Blick“ nennt. Böse Zungen nannten es auch den
„letzten Ausweg“. Alles Gerede im Dorf drehte sich lange Zeit nur um diese Verbindung. Manche hiel-
ten die Theresa für eine Dahergelaufene, andere wiederum für eine Erbschleicherin. Der Dorftratsch in
der goldenen Abendsonne auf den Bänken vor den Häusern fand hier für lange Zeit reichlich Nahrung.
Man ließ kein gutes Haar an dieser wunderhübschen und, wie sich schließlich herausstellte, auch sehr
tüchtigen und begabten Person.
WennGeorginseinenlangenJunggesellenjahrenaufeinigeTagenachSanktPöltenfuhr,umseinenjün-
geren Bruder Stefan zu besuchen, der längst ausgezogen war und dort im Kolpinghaus wohnte, einem
von Adolf Kolping gegründeten Gesellenhaus, durfte ich manchmal über Nacht bei Frau Millinger blei-
ben, deren Haus gegenüber von dem unseren lag. Sie war Witwe, seit ihr Mann eines Tages nicht mehr
aus dem Weinkeller zurückgekommen war.
Eineinhalb Hektar Weingärten hatte der Millinger gehabt. Nachdem er im Herbst, wie jedes Jahr, die
Trauben eingebracht, sie zu Maische und Most verarbeitet und den süßen Saft in die Eichenfässer abge-
füllt hatte, war er jeden Tag in das Kellergewölbe gegangen, um den Fortschritt der Gärung zu überprü-
fen, bis ihm nach etwa sechs bis sieben Tagen das bei der Gärung des Mosts entstehende Kohlendioxid
zumVerhängniswurde;dieKonzentrationdesGasesimKellergewölbewarzuhochgeworden,eslähm-
te ihm bei einem seiner Kontrollgänge die Atemwege. Er wurde bewusstlos, fiel um und versuchte sich
im Fallen noch an den Dauben des großen Fasses festzuhalten, doch rutschte er ab und schlug mit dem
Kopf auf den Betonsockel unter den Fässern auf, was dazu führte, dass ein Blutgefäß in seinem Schä-
delinneren barst und sich ein subdurales Hämatom bildete, das ihm zusammen mit der unten am Boden
besonders hohen Kohlendioxidkonzentration den Tod brachte.
Als seine Frau ihn nach Stunden endlich suchen kam, konnte sie, den blutigen Kopf über kalten Lehm-
bodenschleifend,nurnochanbeidenBeinendieLeicheihresMannesausdemKellerziehen.Wiesooft
wollte ich sie gerade besuchen, hörte ihre verzweifelten Hilferufe und riss gleich beide Kellertüren auf,
Search WWH ::




Custom Search