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Eisblumen und Nachtgespenster
InunseremeinfachenHäuschen,dasehereineKeuschewar -sonenntmaninÖsterreichsolchekleinen,
ärmlichenBauernkaten -,warlediglichdieKüchemitihremweißlackiertenviereckigenTisch,derbeim
Fenster mit Blick auf den Misthaufen stand und auf den die grün gesprenkelte, an den Rändern abgesto-
ßeneResopalplatte geklebtwar,imWintergeheizt. Dergroße,nebeneinerlindgrünenKredenzbefindli-
che weiß emaillierte Küchenherd, in dessen Heizfläche sieben passgenau aufeinander abgestimmte und,
um sie auch der jeweiligen Topfgröße anzupassen, einzeln herausnehmbare gusseiserne Ringe eingelas-
sen waren, spendete genügend Wärme für den ganzen Tag. An besonders kalten Tagen machte meine
MutterdasBackrohrauf,damitnochmehrWärmeindenRaumströmte.IndenerstenStundenamMor-
gen und Vormittag war es eisig kalt, aber am Abend war es wohlig warm.
HinterdemHaus,anderZiegelmauerentlang,warenbisunterdenDachfirstHolzscheiteaufgeschichtet,
die es galt, täglich in kleinere Stücke zu hacken und in die Küche zu bringen, eine mir sehr verhasste
Arbeit. Beim Anfassen der großen dreieckigen Fichtenscheite bohrten sich die abstehenden Holzspäne
in die Haut, und die scharfen Kanten der Scheite schnitten ein, bis es blutete. Die beiden Zimmer links
undrechtsderKüchewarenungeheizt:rechtsdasSchlafzimmervonMutterundStiefvaterundlinksdas
Kinderzimmer, das kleine Kabinett für meine Schwester und mich. Im Kinderzimmer gab es einen klei-
nen Eisenofen, der aber nur samstags und an hohen Feiertagen geheizt werden durfte. Ansonsten diente
ein aufgeheizter Dachziegel, in ein Wolltuch gewickelt, zur Erwärmung der vor Kälte erstarrten Füße
und Zehen. Anfangs verbrannte der heiße Ziegelstein die eiskalte Haut, nach einer Weile kühlte er ab
und verströmte eine angenehme, wohltuende Wärme.
An kalten Wintertagen bildeten sich an den Fenstern prächtige Eisblumen, oft in zwei bis drei Schichten
überfroren.WennamSamstagderOfenimKinderzimmerangezündetwurde,schmolzendiedickenEis-
blumen allmählich ab und bildeten auf der Scheibe in sich zerrinnende abstrakte Figuren und Formen.
Die eben noch wunderschönen kristallenen Fransentulpen oder Dahlien mit weit gespreizten zackigen
Blütenblättern nahmen bald eine traurige, armselige Gestalt an, um schließlich ganz zu verschwinden.
Manche dieser dahinwelkenden Eisblumen erinnerten mich während des Zerlaufens an Nachtgespenster
mit weißen langen Tüchern über dem Kopf, mit nur zwei großen schwarzen Augenlöchern und einem
noch größeren schwarzen ovalen Loch als Mund.
So schön sich diese Figuren am Fensterglas ausmachten, des Nachts, in der Dunkelheit, kamen sie als
furchterregende übergroße Geister wieder. Die Finsternis machte mir Angst. In solchen finsteren Mo-
menten empfand ich das schreckliche Geplärre meines betrunkenen Stiefvaters groteskerweise plötzlich
als wohltuend: Jemand war da und könnte mir in der Not helfen. Eine böse Ironie, denn in meinem Un-
terbewusstsein war eigentlich der Stiefvater selbst der wahre Not und Angst bringende Herold.
Meine Mutter schlief oftmals am Küchentisch sitzend und Strümpfe stopfend ein. Immer wieder fielen
ihr die Augen zu, die Nadel rutschte aus der Hand, der Kopf nickte weg, das Kinn sank auf die Brust.
Dannfuhrsiewiederhochundstopfteweiter.DerStiefvaterwartete,bisihrKopferneutnachuntenfiel,
und klatschte im gleichen Moment laut in die Hände, um sie zu erschrecken. Diese Bösartigkeit ließ er
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