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selbst kelterte, war Bier eine regelrechte Kostbarkeit -, und er verschwand mit schnellen, leicht hinken-
den Schritten. Ich konnte nicht verstehen, warum meine Mutter weinte. Sie sollte doch froh sein, diesen
widerlichen Menschen, der sie immer und immer wieder beleidigt und gedemütigt hatte, eine Zeit lang
nicht sehen, hören und fühlen zu müssen.
Kurz vor Weihnachten kam er wieder aus dem Gefängnis zurück. Abgemagert, blass, aber keineswegs
geläutert. Er war derselbe. Er blieb sich treu, im bösesten Sinne.
Am 24.Dezember war ich Vier-oder Fünfjähriger soaufgeregt wie lange nicht mehr.Nachmittags durf-
ten meine zwei Jahre ältere Schwester und ich unser Schlafzimmer nicht mehr betreten. Es war zuge-
sperrt. Meine Mutter sagte: „Das Christkind wird heute kommen, um den Baum zu putzen. Wann, weiß
ichleidernicht,weilesdochalleTannenbäumeimDorfschmückenmuss.“AusdiesemGrundbliebdas
Zimmer so lange geschlossen.
StörendurftenwirdasChristkindnicht.IchgabmiralleMühe,einenBlickaufeszuerhaschen,probierte
alle Möglichkeiten durch. Ich versuchte durch das Schlüsselloch zu schauen und stellte mich draußen
vordieTür,umzusehen,wodasChristkindgeradeflog.SelbstdenKuhstallhatteichimAuge,weilich
wusste, dass das Christkind am Heiligen Abend auch die Tiere besucht. Ich habe es nicht gesehen.
UmsechsUhrhörteichimZimmereinKlingeln,dieTürgingauf,undmeineliebeMutter,dieraschdas
Kopftuch abgelegt und ihre schmutzige Schürze abgebunden hatte, mit der sie eben noch zum Füttern
der Tiere im Stall gewesen war, stand lächelnd vor dem prächtig glitzernden, leuchtenden Christbaum.
MirsprangschierdasHerzausderBrust.MeinGott,washingdaallesandemBaum!Schokoladeinfar-
benprächtigem Stanniolpapier. Bonbons, gewickelt in buntes Seidenpapier mit Fransen am oberen und
unteren Ende und in der Mitte in ein zusätzliches rotes, blaues, grünes oder goldenes Papier eingeschla-
gen. Mit verschiedenfarbigen Zuckerstreuseln bestreute Windbäckereien baumelten an silbernen Fäden
von den äußersten Enden der Zweige. Dazu Fondantringe in Gelb, Rosa und Weiß, das Rückenteil in
Schokolade getaucht, sowie von meiner Mutter gebackene Kekse in verschiedenen Formen wie Halb-
monden, Sternen, Herzen und weiß Gott was noch allem. An der Baumspitze steckte ein silberner Stern
mit einem aufgeklebten Engelsgesicht.
Alle stellten wir uns rund um den Baum und begannen das Vaterunser zu beten. Meiner Mutter rannen
die Tränen über die Wangen und Stiefvater konnte nach den ersten Worten den Text nicht mehr. Er mur-
melte etwas vor sich hin, so dass man es nicht verstehen konnte. In diesem Augenblick spürte ich un-
ter all seinem alltäglichen Machtgehabe eine erbärmliche Unsicherheit. Anschließend sangen wir noch:
„Stille Nacht, Heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar …“
Andiesem Heiligen Abend war er nicht betrunken. Dann durften wir die Geschenke nehmen undauspa-
cken. Es war nicht viel unter dem Baum. Ich hatte einen neuen Anorak bekommen. Auch an ein Spiel-
zeugauto aus dunkelrot bemaltem Blech erinnere ich mich noch sehr genau. Wenn man einen großen
Schlüssel in das an der Seite befindliche Loch steckte und das Spielzeugauto wie ein Uhrwerk aufzog,
rollte es eine Weile auf der grün gesprenkelten Resopaltischplatte im Kreis herum.
Das Besondere daran war, dass das dunkelrote Spielzeugauto sich in eine andere Richtung drehte und
weiterlief, wenn es an der abgestoßenen Tischkante angekommen war. Vom Tisch fiel es nie.
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