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schon so klumpig, dass sie auf beiden Seiten wie schwerer Ballast herunterhingen und in der Mitte, die
doch den Körper vor Kälte schützen sollte, nur noch das schmutzige, zerschlissene Leinen blieb. Im
Winter war der Körper des Alten nicht nur vom Wundliegen im rauen und feuchten Strohsack rot, son-
dern auch blau und violett vor Kälte und Erfrierungen. Ein Sessel stand neben dem Bett, damit der alte
Schickler vom Bett auf den Sessel und vom Sessel weiter auf seinen verzinkten Blech-Toilettenkübel
rutschen konnte, der ein- oder zweimal pro Woche auf den Misthaufen im Hof geleert wurde.
Oftmals kam es vor, dass der alte Schickler in seiner Siechkammer zwischen Bett und Sessel auf den
Boden fiel und nicht mehr aus eigener Kraft in sein Bett zurückkonnte. Seine Hilferufe wurden nicht
gehört, niemand war im Haus. Er versuchte dann immer wieder, den am Boden liegenden Rumpf an
den Armen in die Strohgrube seines Bettes zu ziehen. Die Kraftanstrengung ließ die dicken, aufgequol-
lenen Adern auf dem erhitzten roten Gesicht an Stirn und Schläfen dunkelblau bis schwarz anlaufen.
Die beinahe blinden Augen waren weit aufgerissen, und aus den Winkeln des zahnlosen Mundes lief
rinnsalartig schäumender Speichel. Dicke Schweißperlen rannen über Wangen und Hals. Das schmutzig
graue, unter den Achselhöhlen löchrige Nachthemd, dessen kragenloser Saum rundherum ausgefranst
war, klebte triefend nass am verschwitzten Leib.
Als er einmal so zwischen Bett und Sessel lag, kamen zufällig die beiden Millingertöchter vorbei, Vroni
und Else. Das war seine Rettung, jedenfalls für diesen Tag. Die beiden jungen Schwestern versuchten
mitallerundletzterKraft,deninseinzerfetztesNachtkleidgehüllten,amBodenliegendenundröchelnd
nach Luft ringenden Mann wieder in sein Bett aus feuchtem Stroh und einem zerschlissenen Jutesack
zurückzuhieven. Immer wieder glitschte den schwachen Mädchen der schweißnasse, plumpsackartig
schwereKörperausdenHänden.UntergrößterAnstrengunggelangesihnenschließlich,denBeinlosen,
mit dem Gesicht nach unten, in sein Bettloch zu rollen. Schwer atmend blieb er dort für einige Zeit auf
dem Bauch liegen, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um sich auf den Rücken zu drehen. Da
war er auch schon wieder allein in seiner winzig kleinen Ausnahmekammer. Der beißend strenge Fäka-
liengeruch des Mannes und seiner Behausung hatte die Millingermädchen mit Ekel erfüllt und gezwun-
gen, fluchtartig die Kammer zu verlassen.
Am Kopfende des Bettes stand ein Nachtkastel mit einer Kerze drauf, die aber jeden Abend nur zwei
Stundenbrennendurfte,undzumAnzündengabesproTagnureinStreichholz.ZudenMahlzeitenwur-
dedemBeinlosendasEssenvonseinerstrengenFrauaufeinememaillierten braunen,verbeultenBlech-
teller mit stilisierten, teilweise abgeriebenen roten Rosen darauf grußlos durch die Tür geschoben und
auf das am Eingang stehende Stockerl, einen kleinen Schemel, gestellt. Die tägliche Weinration von ei-
nemhalbenLiterHaustrunkbekameramMittag.SiemusstebiszumEinschlafenausreichen.Zigaretten
gab es keine mehr, was für den zeitlebens starken Raucher - deswegen hatte er auch beide Beine ver-
loren - ein tagtägliches Martyrium war. Doch da half kein Bitten und kein Betteln. Die Frau blieb hart.
Obwohl es jetzt doch eigentlich schon egal war, ob er noch rauchte oder nicht, er hatte ja eh keine Beine
mehr zum Amputieren.
AbfünfUhrfrühgingimSchicklerhaus,schräggegenübervondemunseren,dasGeschreiundGeplärre
seiner Frau los, der Mutter der beiden Söhne des alten Schickler, Ferdinand und Gustav. Gustav aller-
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