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Für die, die den Hunger überlebten und nicht auswanderten, war Irland nach 1850 ein
anderes Land geworden. Mit dem Bevölkerungsschwund war eine besonders produktive
Altersgruppe verloren gegangen. Übrig blieben verlassene Dörfer und unbestellte Felder. Aber
man zog Lehren aus der Hungersnot. Die Pachtbetriebe wurden wie erwähnt vergrößert und die
Realerbteilung von Landbesitz verboten. Lebensfähigere Großbetriebe traten an die Stelle der
kleinen Höfe, Landarbeiter ersetzten die Wanderarbeiter. Mit Ausnahme des nach wie vor
überbevölkerten Westens ordnete sich der ländliche Raum schließlich grundlegend neu, indem
die Großviehwirtschaft den Ackerbau verdrängte, Ackerland also in Grünland verwandelt und
Futterpflanzen wie Rüben und Hafer vermehrt angepflanzt wurden. In vielen Städten und Dörfern
des Ostens und Südens der Insel wurde der monatliche Viehmarkt wichtiger als der
Wochenmarkt.
Die Londoner Regierung hatte die gewöhnlich als «irische Frage» bezeichnete Krise nicht
in den Griff bekommen und dem liberalen Freihandelsprinzip folgend ein Land sich selbst
überlassen, für dessen Administration sie doch verantwortlich war. Der Liberale William Ewart
Gladstone, der erstmals 1868 britischer Premierminister wurde, leitete eine Reform- und
Integrationspolitik ein, von der er sich auch eine höhere Krisenfestigkeit Irlands versprach. 1869
wurde die protestantische irische Staatskirche aufgehoben und die allgemeine Schulpflicht
eingeführt. Das Selbstbestimmungsrecht Irlands sollte sich in einem Kernbegriff dieser Epoche
wiederfinden: «Home Rule». Daraus wurde ein politischer Kampfbegriff, den die Unionisten in
«Rome Rule» umformulierten. Ein selbstverwaltetes Irland, so meinten sie, werde letzten Endes
vom Papst regiert.
Wie schon zu O'Connells Zeit spielte die Landfrage für die Katholiken nun eine zentrale
Rolle. Ihre Lösung war an den Erfolg eines politisierten katholischen Klerus geknüpft. Dessen
moralisch-politische Führung, etwa in Gestalt von Kardinal Paul Cullen, forderte unbedingten
Gehorsam ein, war loyal zu Rom und pflegte engen Kontakt zur katholischen Kirche in Amerika.
Im Gegenzug versprach sie, sich für die Rechte der Kleinpächter und landlosen Tagelöhner
einzusetzen. Auch der Protestantismus im Norden organisierte sich neu, zumal in Belfast, wo sich
ein Industrieproletariat mit der gleichen Selbstverständlichkeit von den Katholiken abgrenzte, wie
im Süden die republikanischen «Fenier» konfessionelle Grenzlinien zogen.
Die Fenier waren weniger als separatistische Organisation im eigentlichen Sinne
gegründet worden, sondern waren vielmehr ein Produkt der politischen Zeitläufte nach der
Hungersnot. Als Geheimgesellschaft boten sie ein Sammelbecken für unterschiedlichste
Strömungen, darunter die irischen Emigranten in Amerika, Restbestände der agrarischen
Untergrundbewegungen aus den 1830er Jahren und der Young Irelanders sowie Vorbilder der
europäischen Revolutionäre von 1848. Ihre politische Rhetorik glich einem Historiengemälde.
Nationalistisches Pathos in den grellen Farben einer im Mittelalter einsetzenden
Unterdrückungsgeschichte mischte sich mit einem anglophoben Opfergestus. Demzufolge
bezahlte jeder einzelne Ire mit seinem Tod für die Auferstehung der irischen Nation, wofür die
Hungerkatastrophe als Sinnbild diente. Das Personal der Fenier war ähnlich bunt gemischt. John
O'Leary und John Mitchel verkauften den Nationalismus als säkulare Religion. Sie gerieten
damit zwar unweigerlich in Konflikt mit dem Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche,
führten aber das etwa im Bildungswesen stichhaltige Argument der Modernisierung der
Gesellschaft ins Feld. Ihr Ziel war die Revision der ungleichen Besitzverhältnisse auf dem Land.
Nur 1,5 %, kaum 300 aller Landlords in Irland, besaßen ein Drittel des gesamten Landes. Ihnen
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