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Verse über Kalevipoeg zutrugen, ge-
lang es Kreutzwald schließlich, das
Epos niederzuschreiben und 1861 in
Buchform herauszugeben. Das Er-
scheinen des Buches galt als wichtiger
Schritt, der die „Zeit des Nationalen
Erwachens“ in Estland vorantrieb. Im
mythischen Helden, der gegen das
Böse kämpft, sahen die Esten ein Sym-
bol für den Kampf gegen die Obrig-
keit, für das Anknüpfen an die Vergan-
genheit und die eigene Kultur. Kreutz-
wald indes wurde als wahrer Begrün-
der einer eigenständigen estnischen
Literatur betrachtet.
In der „Zeit des Nationalen Erwa-
chens“ folgten weitere Intellektuelle
den Spuren Kreutzwalds und schufen
estnische Texte. Eine der wohl belieb-
testen Dichterinnen Estlands ist Lydia
Koidula (1843-86). Sie schrieb den
Text jenes Liedes, das zu Sowjetzeiten
als eine Art inoffizielle Nationalhymne
galt: „Mein Vaterland ist meine Liebe“
(„Mu isamaa on minu arm“). Noch
heute wird es auf jedem Sängerfest
gesungen. Außerdem verfasste sie
Theaterstücke sowie patriotische und
romantische Gedichte. Auch ihr Vater
Johann Woldemar Jannsen (1819-
1890) war schreibend tätig. Unter ihm
erschien die erste regelmäßige estni-
sche Wochenzeitung in Pärnu und er
verfasste die spätere Nationalhymne.
Koidula war nicht die einzige Dich-
terin, auch Anna Haava (1864-1957)
schrieb romantische Werke. Im
20. Jahrhundert folgten Marie Under
(1883-1980), die der 1917 gegründe-
ten freizügigen Gruppe „Siuru“ an-
gehörte, die sich offen mit der bislang
tabuisierten Sexualität auseinander-
setzte, und Betty Alver (1906-89).
Zunächst erschienen aber einige
dem Realismus zugeordnete Werke
männlicher Schriftsteller. Zu nennen
sind Juhan Liiv (1864-1913), der für
eine freie Estnische Republik plädierte
und lyrische Stücke und Erzählungen
schuf, Eduard Vilde (1865-1933), der
als Berufsschriftsteller arbeitete und
sozialkritische Romane verfasste, oder
der Dramatiker August Kitzberg
(1855- 1927). Große Bekanntheit im
Land hat auch Oskar Luts (1887-
1953), dessen Roman „Frühling“ („Ke-
vade“) zu den populärsten Werken
Estlands zählt.
Als einer der bedeutendsten estni-
schen Schriftsteller des vergangenen
Jahrhunderts ist Anton Hansen
Tammsaare (1878-1940) anzusehen.
Er wurde als Bauernsohn geboren,
konnte aber später Recht an der Uni-
versität Tartu studieren. Dort schloss
er sich der Bewegung Noor-Eesti (Jun-
ges Estland) an, der zahlreiche Schrift-
steller, Maler und Bildhauer angehör-
ten. Sein Hauptwerk, der mehrbändi-
ge Roman „Wahrheit und Recht“ („Tõ-
de ja õigus“), handelt vom Wesen der
Esten, ihrer Geschichte, dem ländli-
chen Leben. Die Esten dankten dem
großen Novellisten der ersten Estni-
schen Republik, indem sie sein Porträt
auf den 25-Kronen-Schein drucken
ließen.
Der Zweite Weltkrieg und die da-
rauf folgende Besatzung durch die
Sowjetunion führten zu einer Zäsur
der sich weiterentwickelnden, kreati-
ven und Europa zugewandten Kultur-
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