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Gestärkt und gefördert wurde dieses Empfinden noch in der Zeit des Es-
tado Novo. Man sprach von cá dentro, lá fora - heißt „hier drinnen, dort
draußen“. Bis heute sind diese Formulierungen im Alltag und in den Me-
dien gängig, wenn es um inländische oder internationale Themen geht.
Nicht von ungefähr sprachen die Portugiesen noch vor gar nicht allzu lan-
ger Zeit von „nach Europa fahren“, wenn sie die Grenze überquerten.
Trotz aller Repression und allen Unrechts wurde Salazar - zum Schre-
cken der intellektuellen Kreise - 2007 im Rahmen einer landesweiten Ra-
dio- und TV-Abstimmung mit 41 Prozent zum „größten Portugiesen al-
ler Zeiten“ gewählt. Dabei verwies er Persönlichkeiten wie Vasco da Ga-
ma, Nobelpreisträger José Saramago oder Ex-Premierminister Mário Soares
auf die hinteren Plätze. Zwar wurde diese Zahl bei späteren Umfragen re-
lativiert, doch es war ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen. Das „Wa-
rum“ wurde diskutiert und analysiert.
Salazar lebt, meint José Gil provokativ. Und diese Aussage lässt sich im
Alltag des heutigen Portugal leicht nachvollziehen. Fast ein halbes Jahr-
hundert Diktatur gehen nicht spurlos vorüber, zumal die Demokratie in
Portugal gerade mal 36 Jahre jung ist. Die ersehnte und unblutige Nelken-
revolution des 25. April 1974 brachte zwar die Freiheit, aber nicht die ur-
sprünglich erhoffte idealistische Erneuerung der Gesellschaft. Viele Ver-
haltensweisen aus der Ära Salazar sind nach wie vor präsent: Das Miss-
trauen anderen Nationalitäten gegenüber, ein fast trotziger Stolz auf die
eigene Geschichte, Neid und ein gewisser Minderwertigkeitskomplex
dem stets dominanteren spanischen Nachbarn und dem sich erfolgreich
abgenabelten, selbstbewussteren Brasilien gegenüber. Auch die Passivität
und der Fatalismus, die die Eigeninitiative lähmen, gehören dazu. Immer
wartet man auf jemanden, der kommt und den Karren aus dem Schlamas-
sel zieht. Bezeichnenderweise wurden nach 1974 die am Unrechtsregime
Beteiligten weder angeklagt oder je zur Verantwortung gezogen. Die Pro-
bleme und verursachten Konsequenzen wurden ignoriert. Es war gerade
so, als hätte man mit einem nassen Schwamm die Kreide auf der Tafel aus-
gewischt. Vielleicht fällt es dem Land deshalb so schwer, mit Kritik von au-
ßen umzugehen. Gleichzeitig lieben viele Portugiesen das Lamentieren
über „die da oben“ und überhaupt. Man prangert gern die politischen und
sozialen Missstände an und diskutiert über alles und jedes.
Aber wehe dem Fremden, der sich verleiten lässt, der einen oder ande-
ren negativen Äußerung zuzustimmen. So wie es einem Portugiesen nie
in den Sinn kommen würde, seine ehrliche Meinung über das Her-
kunftsland eines Fremden kundzutun, so erwartet er das Gleiche auch
vom Gegenüber. Wer von einem Portugiesen gefragt wird: „Und wie ge-
fällt Ihnen unser Land?“ - und das wird oft vorkommen -, der sollte even-
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