Travel Reference
In-Depth Information
hen sich ganz anders als die Alentejanos oder die Minhotos aus dem Nor-
den. Dennoch scheinen alle Lusitanos, wie sich die Portugiesen selbst be-
zeichnen, das Gefühl zu teilen, anders zu ticken als der Rest Europas.
Verbunden fühlen sie sich in dem gemeinsamen Empfinden, Nichtportu-
giesen könnten sie eigentlich nicht verstehen. Sie isolieren sich von ihren
europäischen Nachbarn und solidarisieren sich untereinander in ihrer
selbst empfundenen Fremdartigkeit. (Siehe auch das Kap. „Leben am
Rand Europas“.)
José Gil, zeitgenössischer portugiesischer Philosoph, Soziologe und einer
der anerkannten zwanzig wichtigsten Denker unserer Zeit, analysierte in
seinem 2004 veröffentlichten Buch „Portugal hoje, o Medo de Existir“ die
aktuelle Gesellschaft und löste damit heftige Kontroversen aus. Ist das por-
tugiesische Volk tatsächlich gelähmt von Passivität und „Sich-nicht-Ein-
bringen“, wie er in seinem Buch ausführt? Ist Portugal ein Land, „in dem
nichts passiert“, „in dem alle nur reden und keiner etwas unternimmt“? Gil
beschreibt eine komplexe Gesellschaft, die in einer Art Vakuum lebt, in
dem sich real nichts verändert. Zu Zeiten Salazars war ganz Portugal eine
große Familie. Man identifizierte sich mit der Heimat, der Seelenverwandt-
schaft, dem Bekannten. Salazar ließ einmal an den portugiesischen Bot-
schafter in Paris eine Kiste Ananas schicken. Dazu kommentierte er: „Sie
kommen aus unserer Quinta.“ Ganz Portugal war im übertragenen Sinn ei-
ne Quinta, ein landwirtschaftlicher Familienbetrieb mit trügerischer Idylle.
Fremde, Nicht-Portugiesen und Ausländer störten nur und stellten eine Be-
drohung dar in dieser abgeschotteten Welt. Diese tief verwurzelte Angst
vor dem Fremden zeigt sich bisweilen bis heute in einem misstrauischen
Argwohn allem gegenüber, das von außen auf die Heimat Einfluss nehmen
könnte. In der Isolation fühlten sich die Menschen vermeintlich sicher und
behütet. Man ließ einfach alles geschehen. Die Obrigkeit regelte das tägli-
che Leben und man schaute teilnahmslos zu. Seit sich Portugal Europa und
der Welt öffnete (öffnen musste), steht man dieser Situation oftmals über-
fordert gegenüber. Plötzlich wird alles analysiert, verglichen und in Statisti-
ken festgehalten, bei denen Portugal meistens schlecht abschneidet. Die
einstige Größe droht sich im europäischen Mit- und Gegeneinander in
Nichts aufzulösen. Dem aktuellen Wettbewerb kann das Land nicht allzu
viel entgegenhalten. Das Empfinden, in die Bedeutungslosigkeit abzudrif-
ten, wiegt schwer auf der nationalen Seele.
Fernando Pessoa, universeller Dichter und Denker des 20.Jh., beschrieb
das Problem Portugals als „ ... alles sein wollen und sich mit nichts Gerin-
gerem zu begnügen ...“. Der Stolz auf die glorreiche Geschichte der See-
fahrer, die Wehmut über die verlorene Weltmachtstellung und das ver-
gangene Kolonialreich - all dies ist tief verankert in der nationalen Psyche.
Search WWH ::




Custom Search