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Erst nach 1945 begann der schwierige und dornige Weg in einen Par-
teienpluralismus, welcher der sich differenzierenden Vielschichtigkeit
des Volkes Rechnung trug. Das türkische Volk ist nach und nach in die
Rolle hineingewachsen, zu der man es lehrerhaft erziehen wollte.
Der Etatismus (devletçilik)
Das letzte Organisationsprinzip zielte auf eine staatlich gesteuerte
und unterstützte wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, d. h. der Staat
selbst trat als der größte Unternehmer auf. Die Kemalisten konnten das
Land aufgrund der kaum entwickelten Industriestruktur nicht dem libera-
len „freien Spiel der Kräfte“ aussetzen, da dies wegen der überlegenen in-
ternationalen Konkurrenz den wörtlichen Ausverkauf der türkischen In-
teressen bedeutet hätte. So nahm die „Republikanische Volkspartei“ 1937
bewusst den Etatismus (frz.: état - Staat, türk.: devlet ) in die Verfassung
auf.
Zwischen 1923 und 1937 entstanden die großen staatlichen Banken Zi-
raat Bankas£, I¥ Bankas£, Sümer- und Etibank; zudem investierte der Staat
besonders in der Industrie- und Infrastrukturbranche.
Seit der Menderes-Ära (1950-60) sowie besonders unter Ministerpräsi-
dent Özal („Özalismus“, 1983-89) wurde die Privatisierung stark voran-
getrieben, dennoch sind auch heute noch einige Bereiche wie Eisenbahn,
Luft- und Seeverkehr, Bergbau, Petrochemie u. a. fest in den Händen des
Staates. Die fünf größten Unternehmen der Türkei sind staatlich geführte
Betriebe. Da die meisten Staatsunternehmen nicht die Produktivitätsquote
der Privatwirtschaft erreichen und ihre Bilanzen oft deutliche - durch den
Staat zu deckende - Verluste ausweisen, steht die Privatisierung seit den
1980er-Jahren auf der Tagesordnung einer jeden Regierung. Insofern stellt
der Etatismus sicherlich den überlebtesten Pfeiler der kemalistischen Ideo-
logie dar.
Übersieht man nun das 80-jährige Wirken des Kemalismus, so muss man
staunen und achtungsvoll seinen Panama-Hut ziehen, um sich vor der
Energie eines Mannes (und seiner Partei) zu verneigen, der wie kein an-
derer ein islamisches Land fest in der Moderne verankert zu haben
scheint. Auch wenn dabei nicht selten der Demokratie mit der Peitsche
auf die Beine geholfen wurde.
Es ist historisch immer noch nicht entschieden, ob der Kemalismus in
erster Linie die konkrete Lösung einer geschichtlichen Umbruchsituation
oder aber eine langfristige ideologische Maxime darstellt, die der sich dif-
ferenzierenden Türkei in ihren widersprüchlichen Identitäten gerecht wer-
den kann. Nur wenig spricht für die - von Kemalisten natürlich favorisierte
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