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nur er als demokratisch legitimierter Ministerpräsident das Recht habe,
das Militär zum Eingreifen zu bewegen, dieses aber in undemokratischer
Exterritorialität nicht selbst bestimmen dürfe, welche Maßnahmen im
Staat zu ergreifen seien. Die selbstbewusste Antwort des Generalstabs als
Gralshüter des atatürkschen Erbes war bezeichnend: Es gebe keine In-
stanz, die die Armee davon abhalten könne, gegen die Feinde der Repu-
blik vorzugehen. Womit klar ist, wer in der türkischen Republik auch heute
noch die atatürkschen Hosen anhat.
Der Reformismus (ink£lâpç£l£k)
Dieses Prinzip, das auch als Modernismus bezeichnet wird, soll - zu-
sammen mit dem Nationalismus - sozusagen die ideologische und geisti-
ge Orientierungslücke füllen, die durch die Eliminierung der Religion im
Laizismus für die Bürger entstehen musste.
Der Begriff ink£lâp, der als „Revolution“ bzw. „Umwälzung“ übersetzt
werden kann, deutet an, dass die Kemalisten von der Notwendigkeit einer
permanenten und grundsätzlichen Weiterentwicklung der türkischen Ge-
sellschaft ausgingen. Die Richtung dieser Weiterentwicklung war klar: Die
Türkei sollte sich nach Westen ständig reformieren. Kleidung, Verfassung,
Arbeitsmethoden, Wissenschaft und überhaupt die Denkweise sollten ei-
nem kontinuierlichen Prozess der Europäisierung unterworfen werden.
Den Kemalisten war es dabei anfangs ziemlich egal, ob die Neuerungen
im Volk Resonanz fanden oder nicht, denn aus ihrer konkreten geschicht-
lichen Perspektive mussten die Türken nach Westen ziehen, gab es doch -
so das bekannte Credo Atatürks - zu dessen Zivilisation keine Alternative.
Insofern hat der Reformismus den Glauben an die westliche Denk- und
Lebensweise, eben an die Moderne zur Grundlage, und wenn das
„zurückgebliebene“ Volk das nicht einsah, musste man es eben in diese
Richtung dekretieren. Wie äußerlich und gleichzeitig radikal dieses Prin-
zip manchmal praktiziert wurde, zeigt das Hutgesetz von 1925 (siehe
„Geschichte der Türkei - Kampf der Kulturen“), das den alten Fez in die
Mottenkiste der Geschichte und den Panama-Hut auf die türkischen Köp-
fe der Moderne katapultierte. Gewiss, Atatürk und seine „Republikanische
Volkspartei“ eiferten im besten Glauben und nationalem Interesse für ihre
Ziele. Auch scheuten sie keine Mühe, durch Aufklärung und Propaganda
das Volk von den notwendigen Maßnahmen zu überzeugen, aber ein
neuer Hut macht noch keinen neuen Kopf.
Die Zeiten der permanenten Kulturrevolution sind heute vorüber, die
Köpfe denken - nicht zuletzt dank der atatürkschen Reformen! - selbst-
ständiger und eigenwilliger, und die Hoffnung auf den Westen hat sich ab-
gekühlt, mindestens aber relativiert.
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