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etwas, bis das Volk einsieht, dass man es nur gut mit ihm meint. Und - so
befürchten einige unentwegte Aufklärer unter den heutigen Kemalisten -
das türkische Volk ist ein besonders uneinsichtiger, ja störrischer Schüler.
Eine erste symbolgeladene Niederlage des rigiden Laizismus der kema-
listischen Frühzeit ist mit dem ezan (Gebetsruf) verbunden. Nach dem
Willen der Kemalisten hätte der Muezzin eigentlich seine traditionell ara-
bische Lobpreisung Gottes ( „Allâhu akbar“ - „Gott ist groß“) in Türkisch
schmettern sollen („Tanr£ uludur“); aber die Türken verbanden mit dem Is-
lam nicht die nationalistischen Interessen, die ihnen die Kemalisten gerne
schmackhaft gemacht hätten, und so tönt der ezan heute wieder in der su-
pranationalen, „heiligen“ Sprache des Arabischen über Stadt und Land.
Ab den 1950er-Jahren - eine erste Phase der Demokratisierung - wur-
den dann sowohl von staatlicher Seite als auch vor allem von neu auftau-
chenden islamischen Vereinen und Organisationen viele Moscheen und
Predigerschulen (imam-hatip-okullar£) gebaut und gegründet. Des weite-
ren wurde der einst ganz aus den Schulen entlassene Religionsuntericht
ab 1949 wieder schrittweise eingeführt, um 1982 sogar zu einem obliga-
torischen Pflichtfachin den Gymnasien zu avancieren.Die Orden, obwohl
verboten, fanden und finden halblegale Betätigungs- und Agitationskanäle
(z. B. als private Anbieter von Koran-Kursen), deren Einflüsse bis auf Re-
gierungsebene nachzuverfolgen sind.
Islamistische Parteien wie die Milli Selamet Partisi oder Refah Partisi ent-
standen und - Atatürk würde sich im Grabe umdrehen - übernahmen Re-
gierungsverantwortung, wobei sie ihre Zustimmung vor allem unter den
sozial benachteiligten Geçekondu-Bewohnern fanden und finden. Aber
auch weniger suspekte, durchaus staatstreue Parteien wie die unter Turgut
Özal so erfolgreiche ANAP bemühen sich immer mehr um die islamisch-
konservative Wählerschaft und pflegen ihre Verbindungen zu den bereits
erwähnten islamischen Orden, die heute wieder eine starke Stellung im
Sozial- und Bildungssektor haben.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass unter den „sechs Pfeilen“ des Ke-
malismus besonders der Laizismus im Brennpunkt der heutigen Kritik
und Diskussion steht. Er ist das Prinzip, an dem die Türkei um ihre westli-
che bzw. islamische Identität ringt.
Der mächtige Garant der laizistischen Ordnung ist seit alters die den Ke-
malismus als „reine Lehre“ verteidigende Armee. Das fast unangreifbar
über den Parteien stehende Militär bringt bei seinem Kampf gegen den
tatsächlichen oder vermeintlichen Fundamentalismus auch arrivierte bür-
gerliche Politiker gegen sich auf. Als sich im März 1998 Regierungschef
Mesut Y£lmaz (Partei des Rechten Wegs, DYP) gegen die antiislamistischen
Aktivitäten der Armee verwahrte, tat er dies mit dem Hinweis darauf, dass
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