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Auch die an westliche Vorstellungen anknüpfende Emanzipation der
Frau konnte - wenigstens zunächst - in der Männerwelt kaum Begeiste-
runghervorrufen.BekanntistdieAnekdoteüber Surreya A¤ao¤lu, dieerste
Rechtsanwältin, die im männerbesetzten Restaurant als einzige Frau unter
gafferischenundempörtenBlickenihrEssenhinunterschlingenmussteund
sich für dieses zweifelhafte Vergnügen noch eine Beschwerde einfing.
Atatürk -undjetztkommtderRitter-bekamWindvondemEklatundtrat
beim nächsten Restaurantbesuch der Dame demonstrativ zur Seite.
Eine solche Protektion konnte die anatolische Bauersfrau kaum erwar-
ten-undwahrscheinlichdachtesieauchniedaran.DiereligiöseTrauung
durch den Vorbeter der Gemeinde (Imam) hatte in der Praxis weiterhin
großesGewicht,obwohlsiekeineRechtsgültigkeitmehrbesaß.Undnicht
nur in den rückständigen und ländlichen Gebieten des Ostens blieb der
Islam zunächst noch lange ein inneres Bollwerk gegen die Reformen.
Denn in der Tat waren die Abschaffung des Kalifats und die damit einher-
gehende Entweihung des Islam als unangefochtenes Zentrum der kultu-
rellen Identität die vielleicht tiefsten Schnitte der kemalistischen Revolu-
tion. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Atatürk, der den Islam
als„absurdeTheologieeinesunmoralischenBeduinen“indieMottenkiste
der Geschichte degradieren wollte, sich von seinen religiösen Gegnern -
natürlich heimlich - eine ganze Latte an „unmoralischen“ westlichen Tu-
genden vorhalten lassen musste: Dass er Goethe, westliche Kleidung und
repräsentativeKarossenschätzte,schienfüreinengroßen„Westler“noch
konsequent zu sein, schwieriger wurde es da schon mit dem ihm nach-
gesagten Alkoholkonsum, mit seinen Frauengeschichten und der Spiellei-
denschaft, die empfindlich an der nationalen Vorbildfunktion des neuen
Vateridols kratzten.
Tratsch hin, Tratsch her: Atatürks Reform war eben eine Reform von
oben,unddasVolkliefder„Weisheit“seinesFührersinjahrhundertelanger
Verspätunghinterher.VielederNeuerungenhättenalsPlebiszitdiedemo-
kratische Hürde der Mehrheit kaum genommen. Denn der Staatsgründer
hatte den Türken nicht nur den Fez, die arabische Schrift und den Schleier
genommen, er hatte quasi die 700 Jahre alte islamisch-orientalische Iden-
tität des Landes verboten. Die Türken sollten europäisch denken, ja zu Eu-
ropa gehören, den alten Göttern abschwören, um den neuen zu huldigen.
Am Ende der osmanischen Zerfallsperiode hatte ein totaler kultureller
und politischer Frontwechsel stattgefunden:EinislamischesLand,dassei-
neraltenIdentitätdenRückenkehrensollte,wechselteindasandereLager
- in jenes Lager, das jahrhundertelang das gottgegebene Angriffsziel der
osmanischenArmeengewesenwar.Undesdarfweiterhin-jenachkultu-
rellem Blickwinkel - darüber gestritten werden, ob diese letzte, zwar nicht
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