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reform wurden alle Bevölkerungsteile zumindestensformell gleichgestellt,
sodass der alte Unterschied zwischen muslimischen und nicht-muslimi-
schen Staatsangehörigen aufgehoben wurde. Das islamische Recht, die
Scharia, wurde mit westlichen Rechtsprinzipien durchsetzt, die von weltli-
chen Beamten repräsentiert wurden.
IhrenpolitischenHöhepunktfandendieTanzimat-ReformenmitderVer-
abschiedung einer konstitutionellen Verfassung ( kânûn-i esâsî, 1876), die
unter Sultan Abdülhamid II. (1876-1909) verkündet, aber nicht durchge-
setztwurde.DabeierwiessichdieserSultaninseinermehralsdreißigjähri-
gen Regierungszeit als durchaus tatkräftiger Herrscher, der die ideologi-
schen Abwehrwaffen des Panislamismus, Panturkismus und Osmanis-
mus entwickelte. Während die beiden erstgenanntenPropagandaideen -
Vereinigung aller islamischen Länder unter dem Kalifen (Sultan) sowie Zu-
sammenschluss aller türkischen Völker bis nach Zentralasien - bis in die
heutige Zeit eine gewisse Aktualität beanspruchen können, war der Os-
manismus ein letzter Versuch, die Einheit des sultanischen Vielvölkerstaats
zu retten. Abdülhamid hoffte so, durch das alte Prinzip der personellen
Loyalität alle regionalen Nationalismustendenzen auffangen, mindestens
abereinbindenzukönnen.EswareinTrugschluss(undesentbehrtnichtei-
ner gewissen Ironie, dass gleichzeitig auch der jahrhundertelange Erzfeind
Österreich-UngarnanseinenVielvölkerproblemenzugrundegehensollte).
Unter den intellektuellen Kreisen des Reiches, die Abdülhamid aufgrund
seinerdespotischen HerrschaftundderAußerkraftsetzungderVerfassung
feindlich gegenüberstanden, hatte sich eine als Jungtürken bezeichnete
Bewegung herausgebildet, in der starke Kräfte auf eine schnellere „Ver-
westlichung“ sowie weiter gehende Reformen drängten. Die Jungtürken
hattensichzwarideologischnachEuropaorientiert,aberihrspezifischtür-
kischerNationalismusversuchte,dieantitürkischennationalenErhebungen
aufdemBalkanwieauchinArmenienmitGewaltzuunterdrücken.Derim
Rahmen des 1. Weltkriegs ab 1915 geführte Vernichtungsfeldzug gegen
die Armenier unter Federführung des jungtürkischen Großwesirs Talaat
Pascha gabsichvordergründigalsDeportationeinerkriegsunzuverlässigen
Minderheit aus, erreichte aber de facto die Dimensionen eines systema-
tisch verschleierten Völkermords, dem - je nach Schätzung und Quellen-
angabe-zwischen800.000und1,5MillionenArmenierzumOpferfielen.
Der jungtürkische Nationalismus bot den europäischen Mächten einen
willkommenen Vorwand sich einzumischen und Aufstände in den osma-
nischenRandgebietenzu ihrem eigenen Vorteilzu schüren. Das „Vorbild“
Europa - oder besser gesagt: der unbarmherzige Lehrmeister - war den
Türken nicht nur auf logistischem, wirtschaftlichem und technischem Ge-
biet um Jahrzehnte voraus, es versuchte auch immer offener, seine kultu-
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