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Nach1683erfuhrderFrontstaatdesIslameine250Jahredauernde Ket-
te von Niederlagen, ohne zunächst begreifen zu wollen oder zu können,
warum die ungläubigen Truppen plötzlich nicht mehr zu besiegen waren.
WährendmaninnerlichzähanderkulturellenÜberlegenheitdesIslamfest-
hielt - sich also in zeitloser Gültigkeit wähnte -, brach der profane Feuer-
sturmderModerneüberdieOsmanenherein.EinEuropäerkannsichwohl
kaum vorstellen, wie tief ein solches Trauma von chancenloser Unterle-
genheit das islamische Welt- und Selbstverständnis erschüttern musste.
Österreich-UngarnundRusslandwurdendieErzfeindedesReiches,das
in Konstantinopel bald nur noch wenige Siege zu feiern hatte. Mit dem
Frieden von Kütschük-Kainardsche (1774), der einen verlustreichen sechs-
jährigen Krieg mit Russland beendete, schied das Osmanische Reich end-
gültigausderReihederGroßmächteaus.Dassder„krankeMannamBos-
porus“ auf Karten dennoch erstaunlich lange als große Landmasse zu ver-
merken blieb, lag nicht so sehr an der eigenen Stärke denn an der
Uneinigkeit der europäischen Angreifer, die sich argwöhnisch ob einseiti-
gerVorteilebeäugtenundmisstrauten.BesondersEngland,Frankreichund
später auch Preußen zügelten den Zugriff vor allem Russlands, das als
„drittesRom“undErbedesByzantinischenReichesseinenAngriffaufden
Bosporus mit Macht betrieb.
Die 200 Jahre Defensivkrieg gegen Europa haben das Osmanische
Reich letztendlich - trotz der oben beschriebenen grundsätzlichen Refor-
munwilligkeit bzw. -fähigkeit - auch im Innern verändert. Die durch die
vielen Kriege immer dichter werdenden diplomatischen Kontakte ermög-
lichten einigen Osmanen, einen Eindruck vom „neuen“ Europa zu ge-
winnen. Es war kennzeichnend für die Dekadenz der osmanischen Ober-
schicht, dass die ersten „Importe“ aus Europa weniger technischer oder
politis cherdennästhetischerArtwaren.Währendderberühmten „Tulpen-
zeit“ (1717-30) waren nicht nur die namengebenden holländischen Blu-
men ein begehrtes Dekor der Oberschicht, diese begann auch, die
tatsächlichen oder vermeintlichen Vorzüge von Stühlen und Sesseln zu
entdecken oder sich sogar von europäischer Architektur beeinflussen zu
lassen. Die überwältigende Mehrheit der osmanischen Bevölkerung blieb
allerdingsihrenDiwankissentreuundinteressiertesichweiterhinkaumfür
das aufklärerische Europa. Trotzdem kann die „Tulpenzeit“ als erster eu-
ropäischer Riss im osmanischen Kulturpanzer gewertet werden, auch
wenn die genussorientierten Paschas und Wesire das wohl kaum so ver-
standen haben dürften.
Die Hauptkraft des langsam und widerwillig einsetzenden Verwestli-
chungsprozesses blieben allerdings die nicht abstellbaren militärischen
Niederlagen. Das zähe Festhalten an alten Strukturen, das wurde zu Be-
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