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Das islamische Zeitverständnis
„Siehe, Allah - bei ihm ist das Wissen von der „Stunde“. Und er sendet den
Regen herab, und er weiß, was in den Mutterschößen ist; und keine Seele
weiß, was sie morgen gewinnen wird, und keine Seele weiß, in welchem
Lande sie sterben wird. Siehe, Allah ist wissend und kundig.“
(Der Koran, 31. Sure)
Das islamische Zeit- und Raumverständnis basiert auf der göttlichen Vor-
sehung (arab.: qadar, türk.: kader ), nach der alles von Allah gewusst und
vorherbestimmt ist. Des Menschen Glück und Schicksal (k£smet) liegt da-
mit letztendlich nicht in dessen Hand, denn seine Freiheit ähnelt dem ab-
geschossenen Pfeil, der glaubt, er selbst könne fliegen. Seine kurze Bahn
jedoch ist vorgegeben und sein Ziel steht nicht in seiner Macht.
Wen wundert es da, dass man von Seiten des Westens dem „Orienta-
len“ jahrhundertelang Fatalismus und eine gewisse Tendenz zur passi-
ven Beharrung nachgesagt hat? (vgl. auch den Geschichtsteil über die
technische Rückständigkeit der Osmanen!) Wozu aufbegehren, wenn
doch alles bei Allah liegt? Warum aufregen, wenn man es doch nicht än-
dern kann? Wieso überhaupt etwas ändern, wenn es doch nichts wirklich
Neues gibt?
Eine dynamische, „fortschrittliche“ Philosophie der „offenen Welt“ da-
gegen muss an die selbstgesteuerte Bewegung appellieren, an die unend-
liche Zeit, an die innovative Machbarkeit.
Das Leben des ostanatolischen Dorfbauern (köylü) verläuft dagegen
wie ein ehern festgelegter Kreis von Kreisen: Familie - Arbeit - Teehaus,
Familie - Arbeit - Teehaus. Ergeben in festen Zyklen stellt sich Zeit für ihn
als etwas Natürliches, Großflächiges, ja fast Kreishaftes dar, etwas, über
das er nur eingeschränkte oder überhaupt keine Macht hat. Kommt der
Regen heute nicht, so kommt er morgen, in¥allah! Wie der Nachbar, der
erhoffte Enkelsohn, Krankheiten oder auch der Tod. Allah weiß es! Warum
sich also beeilen und verrückt machen? Fährt man dann nämlich einmal in
die weitentfernte Hauptstadt (eine Weltreise!), um das Grab des großen
Atatürk zu besuchen, so macht es doch wirklich keinen großen Unter-
schied, ob der Zug zwei oder drei Stunden Verspätung hat. Man kann ja
noch einen Tee trinken und sich dem Keyif hingeben.
Geduld (sab£r) fällt leicht, wenn man nicht Herr der Zeit ist, also oh-
nehin nicht über sie verfügt. Es ist schon grotesk: Derjenige, der nach
westlichem Verständnis angeblich kein Zeitgefühl hat (den „Wert“ der
Zeit nicht kennt), nie auf die Uhr schaut und sich über Verspätungen nicht
ärgert, der hat viel Zeit, nämlich die Ruhe selbst.
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