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anderen Schwellenländern - zum integralen, ja skurrilen Wunschfenster
des Alltags; und selbst wenn gesprächsfreudiger Besuch kommt, lässt man
die schönen Bilder in der tristen Dorf- oder Geçekonduwelt gerne weiter-
flimmern. Das Ding ist halt die perfekte Droge - verkündet es doch einen
Vorschein von dem, wo jeder mal hin will (oder soll?). Nach der schon ge-
nannten Statistik des Staatlichen Planungsamtes aus dem Jahre 1993 ent-
fallen 15,4% der Freizeit auf dem Land auf das Fernsehen (Stadt fast 19%),
das damit zum idealen Medium der „Erziehung“der rückständigen Lan-
desteile avanciert ist und von den Politikern auch so eingesetzt wird.
Dass der Wert in der Stadt noch höher liegt, ist auf die (noch) intaktere
Sozialstruktur des Landes zurückzuführen, bei der Besuche bei Freunden
und Verwandten mit 15,1% die zweitstärkste Freizeitaktivität darstellen
(Stadt nur noch 11,6%).
Dagegen liegen die Aktivitäten im gehobenen künstlerischen Bereich
(Konzert, Theater, aber auch Kino) bei lächerlichen 0,3% (Stadt 1,1%). Kul-
tur kostet (überflüssiges) Geld, und das ist in der inflationsgebeutelten Tür-
kei knapp; die gegen Null gehende Zahl auf dem Land erklärt sich vor al-
lem aus den fehlenden Angeboten (Theater und Kinos gibt es hier nicht),
aber auch aus den weit niedrigeren Einkommens- und Bildungsverhältnis-
sen, die ein modernes Kunstbedürfnis kaum entstehen lassen.
Das gilt übrigens auch für das türkische Geschichtsbewusstsein: Der
anspruchsvolle, in historischen Dimensionen schwelgende Tourist, der (für
türkische Verhältnisse) ein horrendes Eintrittsgeld zahlt, um bei
schweißtreibender Hitze in irgendeiner Ruinenstadt über 2000 Jahre alte
korinthische Säulen zu stapfen oder ein halb zerfallenes Theater zu foto-
grafieren, wird noch heute von den meisten Türken mit einem Kopfschüt-
teln bestaunt. „Wie kann man nur soviel Geld für einen Schutthaufen aus-
geben?“, wird selbst so mancher Ruinenwärter denken. Immerhin weiß
derselbe Wärter heute aber, dass mit diesem „Schutthaufen“ Profit zu ma-
chen ist; dies hat auch die Türken umdenken lassen. Konnten die ersten
Archäologen noch alles mitnehmen, was sie fanden - man denke nur an
den berühmten Pergamon-Altar in Berlin -, so wacht die Türkei heute mit
Argusaugen über ihre Kulturschätze. Wer bei dem Versuch ertappt wird,
auch nur kleinste Stücke irgendwelcher Antiquitäten mit nach Hause zu
nehmen, riskiert exemplarische Strafen.
Ein letzter Blick in die Freizeitstatistik: Immerhin fast 10% (Stadt 15%) der
freien Zeit wird mit Lesen gefüllt, allerdings fällt unter Lesen auch die
großflächig bebilderte Tageszeitung mit den Sportergebnissen. Literatur
bleibt einer kleinen, akademisch gebildeten Schicht der städtischen Intelli-
genz vorbehalten. Und das liegt nicht nur am schmalen Portemonnaie,
denn in Bibliotheken werden nur 0,2% der Freizeit investiert.
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