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Eine gewisse Ausnahme stellen Kampfsportarten wie z. B. Ringen, Bas-
ket- und vor allem Fußball dar; im Vordergrund steht dabei ihre Funktion
als Spiegel von Macht, Stärke und Erfolg - nicht so sehr die körperliche Er-
tüchtigung als solche (was bei uns ja auch nicht anders ist). Wer Erfolg hat,
findet bewundernde Anhänger vor allem unter männlichen Jugendlichen,
die ihre Träume in ihren Helden realisiert sehen.
Als ich im Sommer 2000 just zum Zeitpunkt des Fußballeuropapokal-
endspiels zwischen Galatasaray Istanbul und Leeds United in der Türkei
war, sagte mein türkischer Gastwirt mit mürrischer Miene: „Ich hoffe, sie
verlieren.“ - „Wer, die Engländer?“ - „Nein, Galatasaray!“ Ich traute mei-
nen Ohren nicht, und mein Gastgeber erklärte mir: „Wenn sie gewinnen,
wird es heute abend wieder Tote geben. Sie sind so verrückt (deli), dass
sie mit ihren Pistolen in die Luft schießen und sich dabei umbringen.“
Womit er leider recht hat. Die Fußballbegeisterung der männlichen
Jugendlichen in der Türkei äußert sich nicht selten in einem frenetischen
Spiel mit dem Feuer. Nicht umsonst werden die Fußballfans als delikanl£
(heißblütig, verrückt, unkontrolliert) bezeichnet. Hört und sieht man ei-
nen hupenden Autokonvoi durch die Stadt rasen, handelt es sich manch-
mal um eine Beschneidung, manchmal um eine Hochzeit, meistens aber
um die Anhänger eines Fußballvereins (die populärsten sind die drei Is-
tanbuler Vereine Galatasaray, Fenerbahçe und Besikta¥) . Die Wagen, die
meist im Konvoi fahren, sind in die Farben des Vereins gehüllt, wobei aus
dem Fenster hängende Jugendliche riesige Vereinsflaggen hinter sich her-
ziehen.
Sind diese Demonstrationen vor dem Spiel noch vereinzelt, so bricht
nach dem Abpfiff bei entsprechendem Ergebnis alles in einen Taumel der
Begeisterung aus. Und jetzt, ja jetzt werden wirklich die Revolver, Pistolen
und was sonst noch alles knallt a usgepackt. Und es gibt tatsächlich aus pu-
rer delikanl£l£k Tote und Verletzte, d. h. die meisten Katastrophen sind Un-
fälle einer maßlosen Euphorie und resultieren nicht aus Schlachten mit
dem Gegner. Denn - von Ausnahmen abgesehen - haben türkische Fuß-
ballfans noch lange nicht den Krawallstatus europäischer Hooligans er-
reicht; sie sind zwar „heißblütig“ und „verrückt“, aber Randalle ist (noch)
kein Selbstzweck für sie.
Aber wie schon gesagt, überwiegend wird die Freizeit im Sitzen ver-
bracht. Dabei kann das Fernsehen, das heute bis in das letzte ostanatoli-
sche Dorf vorgedrungen ist, mit seinen staatlichen und privaten Program-
men - wen wundert's - den Löwenanteil der Freizeit auf sich vereinigen.
Die Türken ähneln manchmal dabei technikbegeisterten Gläubigen, de-
nen die uns so geläufige moderne Kritik der Massenmedien (noch) weit-
gehend fremd ist. Die „Glotze“ wird so - vergleichbar den Erfahrungen in
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