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Als die zweite Flasche leer war, machten wir Anstalten uns zu verab-
schieden; eine Nachtfahrt nach Ankara stand uns bevor und entschuldigte
all unsere weiteren Absagen. Wir standen - das fühlten wir - deutlich in
der Schuld unseres Gastgebers, der uns zuliebe diese spontane içki sofras£
(Rak£-Tafel) initiiert hatte. Wir schüttelten allen freundlich die Hände, aber
als unser Gastgeber an die Reihe kam, schien mir das zu wenig. So nahm
ich seine Hand zwischen meine beiden Hände, um sie während der Ab-
schiedsworte festzuhalten und wiederholt zu drücken, wobei ich leicht
meinen Kopf neigte. Er beteuerte natürlich, dass wir jederzeit bei ihm will-
kommen seien. Wenn immer wir aus irgendwelchen Gründen Schwierig-
keiten in der Türkei hätten, wäre er beleidigt, wenn wir ihn nicht um Hilfe
bitten würden. Wir dagegen gaben unserer Hoffnung Ausdruck, ihn ein-
mal als Gast in Deutschland zu sehen.
Diese unspektakuläre Geschichte enthält viele Elemente, die in den fol-
genden Ausführungen über die Hintergründe der türkischen Gastfreund-
schaft als typische Verhaltensweisen wiedererkannt werden können.
Hintergründe der Gastfreundschaft
Wir erinnern uns daran, dass die Welt der Männer von dem beständigen
Gegensatz zwischen Gleichheit und Ungleichheit bestimmt wird (Sayg£
und ¦eref). Das erstrebte Grundverhältnis zwischen fremden Männern,
die sich in ihrer Ehre (Namus) prinzipiell gleich gegenüberstehen, ist ei-
nerseits das der Gleichheit; andererseits bewirkt das Bestreben um ¦eref
(Prestige) und Sayg£ (Achtung) ein Verhalten, den anderen so in die Un-
gleichheit zu bringen, dass dieser selbst Sayg£ und ¦eref erweisen muss, al-
so sozusagen in eine Bringschuld gerät.
Das Verhältnis zwischen Gastgeber und Gast ist ein solches unglei-
ches Verhältnis. Der Gast kommt durch die Einladung in eine ungleiche,
dem Gastgeber verpflichtete Position, die er entweder durch eine ent-
sprechende Gegeneinladung oder aber ein Gastgeschenk auszugleichen
bemüht sein wird. Der Gastgeber gewinnt durch die Einladung an ¦eref
(und zwar umso mehr, je höher die Position oder das Ansehen - also ¦e-
ref - des Gastes ist), aber er weiß auch, dass der Gast um das Prinzip der
Gleicheit (Ehre) willen diese Gastfreundschaft erwidern wird. Der Eingela-
dene wird keine weitere Einladung von derselben Person mehr akzeptie-
ren, bevor dieser ihm nicht durch einen Gegenbesuch (oder aber Gastge-
schenk) Gelegenheit zur Wiederherstellung der Gleichheit gegeben hat.
Diese Balance zwischen Gleichheit und Ungleichheit kann wohlge-
merkt nur zwischen Personen funktionieren, die prinzipiell nicht auf so un-
terschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen stehen, dass die Ungleichheit
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