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Stadt heute „orientalischer“, ländlicher und provinzieller als noch vor
zwanzig Jahren. Viele Stadtbezirke seien de facto einem anatolischen
Dorf ähnlicher als einer Weltstadt. Die Leute würden nicht nur die Wä-
sche einer ganzen Großfamilie zum Trocknen quer über die Straße hän-
gen, sie brächten auch ihre Ziegen und Hühner mit, um sie mitten in der
Stadt wie auf einem Dorfhinterhof rauszulassen. Ja, er habe auch ein Tier,
einen Hund, den er sich aus Tierliebe halte. Den könne er in seinem Vier-
tel fast nur noch an der Leine führen, wegen der anderen Tiere und ewi-
gem Ärger mit den Anwohnern. Nein, wenn der Zuzug vom Land und aus
dem Osten nicht bald reglementiert werde, sehe er schwarz für das „eu-
ropäische“ Istanbul. Dann müsse er als Westtürke wohl auswandern, Ka-
nada oder Australien wäre ihm recht. Dort könne und würde er sich mehr
zu Hause fühlen als hier in „Sivastanbul“ (neuerer Spitzname Istanbuls, der
darauf hinweist, dass ca. 7% der Neuzuwanderer allein aus der Gegend
um die anatolische Stadt Sivas stammen). 34)
Ob denn die „Orientalisierung“ nicht auch ihren Charme hätte, sozu-
sagen mehr Vielfalt und Farbe in den kulturellen Schmelztiegel brächte,
und ob sie so nicht auch mehr von der „türkischen“ Identität vermittle?
Meine Frage scheint für Turgut fast schon eine Provokation zu sein, so ent-
schieden reagiert er. Für einige Touristen, die sich angesichts übervoller
Bazare, verschleierter Frauen und eines Heers an Schuhputzern, Brezel-
verkäufernundLastträgerninOrientnostalgienergehen,mögedasjanoch
zutreffen. Aber was heißthier schon „türkischeIdentität“?Von diesen Leu-
ten sei er Jahrhunderte entfernt, und ein ganzer Kontinent liege buchstäb-
lich dazwischen. Sein Lebensstil sei europäisch, „kemalistisch“, und er fin-
de es gut, dass Erbakan gestürzt und seine Refah Partisi verboten worden
sei,auchwenndasanderExistenzeinerislamischorientiertenParteinichts
geändert habe. (Viele Refah-Mitglieder wanderten über die zwischenzeit-
lich gegründete und dann ebenfalls verbotene „Tugendpartei“, Fazilet Par-
tisi, zur heute regierenden AKP von Ministerpräsident Erdo¤an. )
Was solle denn Europa, dem man doch zugehören wolle, davon halten,
dass junge Studentinnen seit Jahren mit dem Kopftuch vor der Istanbuler
Universität demonstrierten (die Universitätsleitung hatte das Kopftuch un-
tersagt und die gegen das Verbot verstoßenden Studentinnen von den
Prüfungen ausgeschlossen) oder dass man darüber diskutiere, Frauen wie-
der Kleidervorschriften zu machen und ihnen die Schminke in der Öffent-
lichkeit zu verbieten? Er sei auch Muslim, aber Religion, so finde er, sei
doch wohl eher Privatsache, das habe doch nichts mit staatlichen Ver- und
Geboten zu tun. Wo man denn eigentlich hinwolle, nach Asien oder nach
Europa? Für ihn und ungefähr weitere 15% (!) der Bevölkerung sei das klar,
aber die „Anderen“, die den çar¥af (Ganzkörpertuch der Frauen) und Voll-
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