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Im Gegensatz zu dieser Wohnform
stehen die Favelas. An diesem Phä-
nomen haben sich schon viele Poli-
tiker und Bürgermeister die Zähne
ausgebissen. Bis heute konnte keine
Macht der Welt sie verschwinden las-
sen, auch wenn Stefan Zweig 1941
in seinem Werk „Brasilien - ein Land
der Zukunft“ die Favelas als „Neger-
dörfer in der Stadt“ beschrieb und um
ihre Zukunft fürchtete. Eine Favela ist
kein Slum, sondern ein illegal besetz-
tes Gebiet auf einem Morro (Hügel)
mit Häusern und eigener Infrastruk-
tur. Der Begriff wurde vom 5 m hohen
Kaktus Favela (Cnidoscolus phylla-
canthus) abgeleitet, der einem Hügel
im Nordosten Brasiliens seinen Na-
men gegeben hatte: Morro da Fave-
la. Dieser Name wurde für alle illega-
le Bauten auf den oft steilen Hügeln
Rios übernommen.
Die ersten Favelas entstanden
Ende des 19. Jh. aufgrund von Wohn-
raummangel. Befreite Sklaven und
Flüchtlinge aus dem Nordosten des
Landes waren durch ihre geringen
Einkommen gezwungen, bezahlbare
Unterkünfte in der Nähe ihrer neu-
en Arbeitsplätze zu organisieren. Sie
zogen mitten in Rio einfach die un-
bebauten Morros hinauf, errichteten
ohne Genehmigung ihre Mocambos
(Hütten) aus Holz und Lehm und leg-
ten damit den Grundstein der Fave-
las. Über Jahrzehnte sind diese Hüt-
tendörfer gewachsen, haben sich or-
ganisiert, emanzipiert und entwickelt
und gehören heute zum Stadtbild.
Der relative Wohlstand mit Gaskühl-
schränken, Fernsehempfang über Sa-
tellitenschüsseln und Gesundheits-
posten (medizinische Minimalversor-
gung) haben die Bewohner verwurzelt
und soziale Netzwerke entstehen las-
sen, der Umzug in eine Sozialwoh-
nung ist undenkbar.
Eines der gefährlichsten Konglome-
rate in der Nordzone ist der Complexo
do Alemão, der aus vierzehn Favelas
besteht und dem Comando Vermel-
ho untersteht. Angesichts der bevor-
stehenden Fußballweltmeiterschaft
2014 und der Olympischen Sommer-
spiele 2016 in Rio hat die Regierung
eine Sicherheitskampagne eingelei-
tet, um die mächtigsten Favelas bis
2014 zu „befrieden“ und die Macht
der Drogenbosse zu brechen. 2010
wurde der Complexo do Alemão ge-
stürmt und 40 Tonnen Marihuana
und Hunderte von Waffen, darunter
sogar Luftabwehrraketen, wurden si-
chergestellt. Die mit 70.000 Bewoh-
nern größte Favela Rocinha wurde
2011 von 3000 Militärpolizisten und
Marinesoldaten besetzt, der Sitz des
Drogenbosses Peixe ausgehoben und
der Kartellchef Nem verhaftet. Eine
„friedensschaffende“ Polizei blieb
vor Ort. Dazu wurden meist feste Po-
lizeiposten eingerichtet. Trotzdem
kehrten nach kurzer Zeit Drogenban-
diten gerade im Complexo do Alemão
zurück und kündigten die Aufnahme
der Drogengeschäfte auf groß aufge-
stellten Schildern an. Es wird sich erst
noch zeigen, ob die Sicherheitskräfte
in Rio de Janeiro die Macht der Mor-
ros brechen können.
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