Environmental Engineering Reference
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Wenngleich die Bereitstellung von Nahrungsmitteln nach wie vor ohne Zweifel eine
zentrale Obliegenheit der Landwirtschaft darstellt, bedürfen das skizzierte Fremdbild des
Bauern und die daraus abgeleiteten Handlungsimperative also unumgänglich weiterer
Diskussion: Zuallererst muss die Rolle von Energie im gesellschaftlichen Zusammenleben
adäquat gewichtet werden. Ihre Verfügbarkeit ist gerade in modernen Gesellschaftsformen
eine Grundvoraussetzung für ein gelungenes Leben.
Energie kann demnach - ähnlich wie Nahrung - durchaus ein Lebens-Mittel genannt
werden (Widmann und Remmele 2008): Ein Mittel, das bedeutsame „Grundbedürfnisse“
des „modernen“ Lebens wie Wärme, Licht oder Mobilität erfüllt und derart maßgeblich zu
einem guten, komfortablen Leben beiträgt. Die Welthungerhilfe hielt in ihrem Positions-
papier zur ländlichen Entwicklung schlüssig fest, dass die Versorgung mit Energie gerade
auch in ärmeren Regionen die Basis für eine wirtschaftliche wie auch für eine soziale Ent-
wicklung darstellt (vgl. Welthungerhilfe 2012, S. 31).
Angesichts der zentralen Bedeutung von Energie für das Leben in einer modernen Ge-
sellschaft ist es also zu kurz gegriffen, in der landwirtschaftlichen Produktion von Energie
eine Verfehlung des gesellschaftlichen Auftrags der Landwirtschaft erkennen zu wollen.
(In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Boom an Energie aus
Biomasse in Zeiten sehr niedriger Agrarrohstoffpreise und großer Agrarrohstoffüber-
schüsse einsetzt.)
Des Weiteren ist es historisch nicht korrekt, die landwirtschaftliche Produktion von
Energie als Innovation der letzten Jahrzehnte zu verstehen. Vielmehr wurde Energie im-
mer auch schon zu einem gewissen Teil von der Landwirtschaft produziert: Über Jahr-
hunderte hinweg war der Landwirt durch Bereitstellung von Futtermitteln für Zugtiere
wesentlich auch Energieproduzent und hat diese Aufgabe erst durch die zunehmende In-
dustrialisierung in den letzten 200 Jahren mehr und mehr verloren (Riegler et al. 1999).
Auch auf deutschen Böden wurde neben Nahrung immer schon auch Energie gewonnen:
Rechnet man beispielsweise Futtermittel für Zugtiere in der Landwirtschaft und für den
Personen- und Gütertransport mit ein, so wurde im Jahr 1914 auf über einem Drittel der
Ackerfläche Bayerns Energie produziert (Bayerisches Staatsministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten 2009).
Die hier vorgenommenen Relativierungen bedeuten in keiner Weise, dass die land-
wirtschaftliche Energiegewinnung nicht nach Kriterien ihrer Sozialverträglichkeit ethisch
zu reflektieren ist, jedoch gilt: Etwaige historisch gewachsene Fremdbilder des Bauern als
Nahrungsmittelproduzent sind in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive durchaus re-
lativ und nicht absolut. Mit Blick auf die Historie lässt sich sagen, dass die landwirtschaft-
liche Gewinnung von Energie (auch in deutschen Bundesländern) durchaus traditionell
verwurzelt ist. Landwirtschaft war nie so eindimensional wie oft vermutet. Die bäuerliche
Arbeit ging immer schon über die Produktion von Nahrungsmitteln hinaus. Wer sich auf
Kultur als Wert beruft, wird dabei keine Probleme haben, sich über die Vielfältigkeit kul-
tureller landwirtschaftlicher Praxis aufklären zu lassen.
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