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Manhmal, am Sabbat, rufen Levi Freunde an, wenn sih niht die nötigen zehn
Mann zusammengefunden haben, die für das Gebet vorgeshrieben sind, dann eilt er
hinüber in die Synagoge, die nur an diesem einen Tag ihre Türen öfnet, aus Siher-
heitsgründen. Levi lebt in Kadıköy, am asiatishen Ufer. Er liebt seine Mahalle , sein-
en Kiez. Hier haben sih kleine und größere Bürger eingerihtet, dem Viertel geht
es niht shleht. Die Leute seien wärmer und herzliher als drüben in den shik-
en europäishen Vierteln, indet Levi. »Vielleiht weil sie keine großen Sehnsühte
haben.« Mit dem einen streitet er auf der Straße über Politik, mit dem anderen über
Fußball. Leidenshatliher Koh ist er zudem, führt uns zum Markt von Kadıköy,
wo einander eng umshlungen haltende Radieshen auf Kohlköpfen tanzen. Seinen
Marktgang lässt er gerne ausklingen in einer der beiden Patisserien, die einander
seit Jahrzehnten in einer Gasse so gegenüberliegen, als habe der Romancier das ge-
plant: linker Hand der Türke, rehter Hand der Griehe. Der alte osmanishe Laden
»Ali Muhiddin Haci Bekir« verkaut seit 1777 türkishen Honig und Zukerwate,
dazu shneiden die Verkäufer den Sesam-Zuker-Kuhen Helva von Riesenlaiben, als
sei es Shweizer Käse. Auf der anderen Seite der griehishe Konditor »Baylan« mit
seinem Sehzigerjahre-Linoleum, wo sie Likörpralinen anbieten und einen Hefezo-
pf, so loker und dutend, dass Levi sih an der heke einen ganzen geben lässt, ihn
mit nah hinten in den Garten nimmt und dort bei einer Tasse Kafee auseinanderp-
lükt. Es geht Mario Levi wohl um das: was häte sein können. Wenn man Istanbul
das »shreklihe Erwahen« (Levi) im nationalistishen Taumel der jungen Repub-
lik erspart häte.
Was häte sein können. Auh den heute über Ahtzigjährigen Ishak Alaton trieb
dieser Gedanke. Siebzehn war er, als er shwor, »Rahe zu nehmen, auf positive Art«.
An dem System, das seinen Vater zerstört hate. Seinen Vater, der Republikgründer
Atatürk liebte und der der Familie befahl, zu Hause nur Türkish zu sprehen. Der
Vater, der ein besheidenes Vermögen gemaht hate mit dem Import von Textilien.
Bis das Jahr 1942 kam. Jenes Jahr, in dem erst einmal die Nationalisten Rahe nah-
men, an allen, die niht Türken waren und denen es dennoh gut ging. Es war eine
Zeit, die jenen Justizminister hervorbrahte, der den Nihtürken im Land verkün-
dete, sie häten »einzig das Reht, Sklaven zu sein«. Es war eine Zeit der Wider-
sprühe: Einerseits nahm der Staat jüdishe Flühtlinge aus Nazideutshland auf, an-
dererseits erließ er 1942 eine Vermögenssteuer, die nur ein Ziel hate: allen niht-
muslimishen Wohlstand zu ruinieren. Wer seine Shulden niht bezahlen konnte,
wurde zu Zwangsarbeit verurteilt. Alatons Vater arbeitete in einem Steinbruh im
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