Travel Reference
In-Depth Information
Şengör kann sih mit großer Leidenshat über den Niedergang des Bildungswesens
und den Verfall der Republik des großen Atatürk ereifern. Die einzige Institution im
Land, die sein Vertrauen hat, ist die Armee. An einer Stelle während unseres Ge-
sprähes klingelt sein Mobiltelefon. Şengör geht ran - und springt noh im selben
Moment vom Sofa auf. »Mein Kommandant!«, rut er ins Telefon und steht während
des ganzen fünfminütigen Telefonats stramm. Als er aufgelegt hat, lokert sih seine
Haltung, und er nimmt wieder Platz. »In meinem ganzen Leben«, sagt Şengör, »habe
ih noh nie sitzend mit einem General oder Admiral gesprohen.«
Celal Şengörs Haus liegt relativ siher: Die Bosporushänge hinter der zweiten
Brüke sind aus solidem Fels. Gefährdet bei einem Beben sind vor allem die auf Sand
gebauten Stadteile am Marmarameer. Aber auh Teile der Innenstadt. Das Zentrum
von Istanbul ist erbaut über einem Boden aus stark gefaltetem Sandstein und Kalk-
stein, durh den sih Gänge von festem Andesit ziehen. Das letzte große Beben er-
lebte Istanbul 1766 . Der Geologe merkt da auf. Mehr als zwei Jahrhunderte Ruhe.
Mehr als zwei Jahrhunderte, in denen sih im Untergrund Spannung aubaut. Das
shlimmste Szenario, sagt Celal Şengör, sei ein Beben der Stärke 7,6 über eine Dauer
von zwei Minuten. Die Geologen stellen sih das so vor: Erst stürzen die Häuser
entlang der Marmaraküste ein, dann türmen sih Tsunamiwellen von bis zu neun
Metern Höhe über der Küste auf, und shließlih brehen Feuersbrünste los. Erd-
bebenerfahrene japanishe Wissenshatler haben für diesen shlimmsten Fall eine
Zahl von siebzig- bis neunzigtausend möglihen Toten errehnet, eine halbe Million
Familien würde ihr Obdah verlieren, die Kosten für den Wiederaufbau shätzten
sie auf vierzig Milliarden Dollar. Den Halbkreis um das Goldene Horn und den Gal-
ataturm hält Şengör für besonders gefährdet. Auf einen Zetel kritzelt er den uer-
shnit des Topkapıpalastes. »Möglih, dass beim nähsten Beben die Mauer des
Palastes ins Meer abrutsht«, sagt er. »Die Shatzkammer läge dann frei für Plünder-
er.«
»Unsere Nahbarn sagten uns, wir sollten sie niht länger an die Erdbeben
erinnern. Sie wollten das Wort niht hören und fanden das niht net von uns.
Kaum einer kam zu unseren Erste-Hilfe-Klassen.«
(Necla Başar, Nahbarshatsaktivistin im Stadteil Gayretepe)
Istanbul ist niht die einzige erdbebengefährdete Metropole der Welt - aber sie ist
die einzige, in der mindestens zwei Dritel aller Gebäude illegal und niht erd-
Search WWH ::




Custom Search