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» Es war Gotes Wille «, sagte Staatspräsident Süleyman Demirel zu Erdbebenop-
fern 1999 . Damals 1999 bebte die anatolishe Erde das letzte Mal. Knapp hundert
Kilometer von Istanbul entfernt, Epizentrum war der Ort Gölcük am Ufer des Mar-
marameeres. Siebzehntausend Tote zählte die Regierung damals, andere sagen, es
seien bis zu dreißigtausend gewesen. Es war eine der verheerendsten Naturkata-
strophen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Es war das Menetekel für
Istanbul. »Ih zeige ihnen etwas.« Celal Şengör zieht eine kleine Karte hervor. Da-
rauf eingezeihnet rot die Verwerfungslinie und, als kleine blaue Punkte, alle Erd-
beben seit 1939 : Alle paar Jahre rükt die blaue Shlange um einen Punkt nah
Westen vor. Jedes Erdbeben, jede Spannungsentladung in einem Abshnit sorgte
wiederum für einen Aubau neuer Spannung an seinem westlihen Ende. Vorerst let-
zter Punkt ist Gölcük 1999 . Kurz vor Istanbul. »Sehen Sie! Dazu müssen Sie kein
Geologe sein. Das ist ein einfaher Intelligenztest. Und unsere Politiker …«, Celal
Şengör shnaubt leise, »unsere Politiker bestehen den niht.« Der nähste Punkt, sagt
diese Karte, wird Istanbul sein. Şengör ist niht der Einzige, der die Hände ringt ob
der Untätigkeit der Politik. »Es wird keine Fluht und keine Retung geben. Shmerz
und Tränen werden das ganze Land erfassen«, prophezeite sein Kollege Naci Görür
am zehnten Jahrestag des Bebens von Gölcük, um fassungslos hinzuzufügen: »Wir
sagen ihnen, dass ein großes Erdbeben kommen wird, wir sagen ihnen, wie viele
Menshen sterben werden - und keiner trit irgendwelhe Vorkehrungen.«
Fahlih ist Celal Şengör ein Genie, als einziger Türke wurde er zum Mitglied der
American Philosophical Society, Deutsh spriht der Professor mit demselben Furor
wie English oder Türkish. Ein einfaher Charakter aber ist er niht. Er maht kein-
en Hehl daraus, dass er den Großteil seiner Landsleute für Idioten hält, den Premier
nennt er einen »Ignoramus«, auf die Nahfrage, warum er in seinem Anwesen hoh
über dem Bosporus an diesem strahlend shönen Tag die Jalousien heruntergelassen
hat und uns im Halbdunkel empfängt, erwidert er troken: »Damit ih die Regier-
enden draußen niht sehen muss.« Şengör ist einer von jenen Verteidigern der alten
Republik, die die Religion für die Wurzel allen Übels halten und denen darüber die
Demokratie in Verdaht gerät. »Es ist ganz einfah«, sagt er: »Wissenshatlih zu
sein, heißt, von der Erfahrung zu lernen. Wer niht lernt und statdessen betet, der
ist niht wissenshatlih. Die Türken sind kein wissenshatlihes Volk. Punkt.«
»Natürlih habe ih Angst. Aber was die Stadt betrift: Sie haben Istanbul doh
ohnehin shon zerstört. Da maht ein Erdbeben auh nihts mehr.«
(Deniz Koç, Historikerin)
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