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Schon die Redensart von den »böhmischen Dörfern« illustriert es. Böhmische Dörfer - das
waren unaussprechliche Namen, die die deutschsprachigen Nachbarn nicht verstanden. Die
tschechischeEntsprechungderRedensartnenntübrigensdasspanischeDorf( španelskavesnice )als
BeispielundurchschaubarerVerhältnisse.DieTatsache,dassdieTeutonensichmitdenslawischen
Idiomen schwertaten, hat sich im Gegenzug im Tschechischen wie im Polnischen und anderen
verwandten Sprachen darin niedergeschlagen, dass das Wort für deutsch ( německý , ursprünglich
für Fremder) von der Vokabel němy (stumm, sprachlos) hergeleitet wurde.
Was also ist das Tschechische an Tschechien, außer der Sprache mit ihren geballten Konson-
anten und dem unverwechselbaren Č? O ja, die Tschechen trinken tüchtig Bier und essen Bierkäs
dazu, und ehe sie in eine fremde Wohnung eintreten, ziehen sie die Schuhe aus. Sie sind große
Musiker,großeBücherleserundgroßeEishockey-Fans,undamWochenendegibtessogarinPrag
freie Parkplätze, weil die Eingeborenen mit ihren Freunden auf der chata (Hütte) oder chalupa (et-
wasbessereHütte)sitzenundBiertrinken,Bücherlesen,EishockeyguckenodereineSymphonie
vonAntonínDvořákhören.WahlenindendeshalbnieamSonntagstatt,sondernzwischenFreit-
ag vierzehn Uhr und Samstag vierzehn Uhr, alles andere wäre aussichtslos.
Dass in jedem Tschechen ein Švejk stecke, ist ein Gerücht, an dem die meisten Tschechen
wenig Gefallen inden. In Wahrheit sind zehn Millionen Menschen natürlich zehn Millionen
verschiedene Menschen. Weshalb sie einander gegenseitig auch kritisieren, als provinziell zum
Beispiel, als plebejisch, stur oder opportunistisch. Stolz sind die Tschechen auf ihre attraktiven
Frauen,einScherzwortlautet: Českáholka,hezkáholka (TschechischesMädchen,schönesMädchen).
Tschechien ist deshalb eine Großmacht nicht nur in der Automobilproduktion, im Eishockey und
im Bierkonsum, sondern auch im internationalen Model-Business.
Vor allem hält sich die kleine Nation im Herzen Europas etwas zugute auf ihren Eigensinn
und ihr Beharrungsvermögen. Hätten diese Eigenschaften nicht über Jahrhunderte ihre Wirk-
mächtigkeit entfaltet, so gäbe es Tschechien wahrscheinlich gar nicht als unabhängigen Staat.
Jan Hus, der große Reformator, der Europas erste Revolution entfesselte, ist der bekannteste der
Volksführer, die diese tschechische Widerborstigkeit formten.
SpäterwareneszweiSprachforscherundeinHistoriker,dieim19.JahrhundertdieGrundlage
für das nationale Aufbegehren gegen die seit 1526/27 als Könige von Böhmen herrschenden
Habsburger in Wien schufen. Der Priester Josef Dobrovský schrieb eine tschechische Sprachlehre
und Grammatik in dem Bemühen, das Tschechische noch einmal zu kodiizieren, ehe es vor
dem damals bestehenden Übergewicht des Deutschen kapitulieren müsste. Die Sorge war nicht
grundlos, wie der Untergang der Elbslawen im Osten Deutschlands belegt. Erhalten haben sich
dort nur die Sorben, von der Existenz der Wenden, Abodriten und Liutizen zeugen nur noch
Orts- und Eigennamen. Dobrovskýs Schüler Josef Jungmann schuf ein tschechisch-deutsches
Wörterbuch, und der Historiker František Palacký wurde mit einem epochalen Werk über die
»Geschichte von Böhmen« zum Führer der tschechischen Nationalbewegung. Die Schriftstellerin
Božena Němcová tat mit dem Roman »Babička« (Die Großmutter), einer Doridylle, das Ihre als
literarische Dreingabe dazu. Und die Komponisten Bedřich Smetana (1824-1884) und Antonín
Dvořák (1841-1904) steuerten die musikalischen Ingredienzien zu jenen Selbstvergewisserungen
bei, die das Aufbegehren unterfütterten und schließlich nach dem Ersten Weltkrieg in der
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