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vard Beneš fest, die 1945 die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen legitimierten und straf-
frei stellten.
Seit einiger Zeit aber greifen einzelne Politiker und Initiativ-Gruppen das Thema von Neuem
auf. Sie veranstalten Diskussionen und Ausstellungen, befragen Historiker und Zeitzeugen. In
Brünn und Aussig wurden Gedenktafeln errichtet, die an die deutschen Opfer
tschechoslowakischer Gewalttaten nach dem Krieg erinnern. In Prag ehrte 2006 der damalige
Ministerpräsident Jiří Paroubek, ein Sozialdemokrat, jene deutschen Antifaschisten, die 1939 den
deutschen Truppen im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Landsleute nicht zujubelten, sondern den
Nazis Widerstand leisteten. Und in Aussig formierte sich das Collegium Bohemicum, das mit
Unterstützung der Stadt und der Prager Regierung das deutsche Kulturerbe in den böhmischen
Ländern plegt und diesem Thema das dortige Museum widmen will.
Dieses Collegium Bohemicum ist auch der Träger des Unterrichtsprojekts in den Gymnasien
der vier nordtschechischen Städte. Die Ausführung liegt in den Händen der Initiative »Antikom-
plex«, einer Gruppe von Studenten, die inzwischen zu Doktoranden herangereift sind und die
2005 mit dem Projekt »Verschwundene Sudeten« bekannt wurden. Sie hatten das Schicksal jener
Dörfer im Sudetengebiet dokumentiert, die nach 1945 neu besiedelt oder zerstört wurden. Das
Buch darüber wurde ein Bestseller.
Die Arbeit mit den Schülern in Louny, Kadaň, Chomutov und Ústí ist »etwas Neues für uns«,
sagt Ondřej Matějka, der Geschäftsführer von »Antikomplex«. »Aber wir hoffen, dass die Zeit
dafür jetzt reif ist.« Neu ist, dass jetzt nicht mehr nur das kulturelle Erbe, sondern auch die
Todesmärsche und die Massaker an Deutschen nach Kriegsende untersucht werden, ein Thema,
das viele Tschechen lieber weiter in der Versenkung sähen. Beim Gespräch in der Klasse 6A in
Louny klingt dies durch, als die sechzehn- und siebzehnjährigen Schüler von Reaktionen ihrer
Angehörigen auf das Projekt erzählen.
Ein Mädchen berichtet, sein Urgroßvater sei von den Nazis im KZ Mauthausen ermordet
worden, erst nach dem Tod der Urgroßmutter begann es, sich für die Sudetendeutschen zu in-
teressieren. Und dann die Überraschung, »dass die Tschechen auch so was gemacht haben«. Ein
Junge sagt, in seiner Familie herrsche die Überzeugung vor, die Deutschen wollten nur von ihrer
eigenenSchuldablenkenundweiterdurchihrGeldihrenEinlussinder EU geltendmachen.Ein
anderesMädchenhörtevonderGroßmutter,diesehabeeinensehrguten,angenehmendeutschen
Lehrer gehabt, der von den Nazis weggebracht worden sei. Und dann ist da ein Vater, der das
Forscherinteresse seiner Tochter vorbehaltlos unterstützt.
VergangenheitsbewältigungkommtnurinkleinenSchrittenvoranundhaktsichoftanWider-
sprüchen fest. Als 2009 in Lidice der siebenundsechzigste Jahrestag der Auslöschung dieses
DorfesdurchdieNazisimJuni1942begangenwurde,gabsichStaatspräsidentVáclavKlausganz
und gar nicht versöhnlich: »Im Denken und Fühlen der damaligen Generationen unserer Nation
hat die Tragödie von Lidice die Bereitschaft zur Fortsetzung des jahrhundertelangen Zusammen-
lebens mit den Sudetendeutschen nach dem Krieg beendet.«
Ein paar Tage zuvor indes hatte die Polizei in Saaz (Žatec) mitgeteilt, dass nun das größte
bekannte Massaker an Deutschen aus der Zeit der »wilden Vertreibungen« 1945 aufgeklärt sei
- vierundsechzig Jahre danach. Auf eine Anzeige aus Deutschland hin hatte zunächst das Bay-
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