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Der Name der Lücke
Achthundert Jahre gemeinsamer Geschichte - ein neuer Blick auf die Sudetendeutschen
Im Grunde ist der Name hinderlich, weil er in die Irre führt. Sudetendeutsche - wer weiß in
Deutschland schon, was der Begriff genau besagt und wie mannigfaltig er historisch aufgeladen
ist? Und wer in Tschechien würde diese einst zum Popanz aufgeblasene Vokabel mit jenem An-
lug von Fürsorglichkeit in Verbindung bringen, mit dem der tschechoslowakische Staatsgründer
Tomáš G. Masaryk 1927 von »unseren Deutschen« gesprochen hat? Jetzt, an der Schwelle einer
neuen Ära des Dialogs zwischen Tschechen und Deutschen, die sich mit Enthüllungen über ein-
stige Verbrechen ebenso ankündigt wie mit anspruchsvollen kulturellen Projekten, ist die ganze
Fülle der beiderseitigen Beziehungen in den Blick zu nehmen. Und die liegt jenseits des Hori-
zontes, der mit sudetendeutsch benannt wird.
Die Wortschöpfung ist nicht sehr alt, sie wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg populär. Von
einem »temporären Begriff«, der aufkomme und wieder vergehe, sprach der renommierte His-
toriker Ferdinand Seibt, auch von »einem bei den Geographen entlehnten Verlegenheitsbegriff«.
Der Gebirgszug der Sudeten erstreckt sich bekanntlich als klassisches Mittelgebirge über mehr
alsdreihundertKilometervondersächsischenLausitzentlangderpolnisch-tschechischenGrenze
über das Riesen- und das Altvatergebirge bis zum Niederen Gesenke in Nordmähren. Als Sude-
tenländer bezeichnete man schon im 19. Jahrhundert im Habsburger Reich gelegentlich die Ge-
biete der heutigen Tschechischen Republik, also Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien,
vormals auch die böhmischen Länder genannt.
Der Erste Weltkrieg schuf neue Tatsachen. Die Donau-Monarchie kollabierte, es entstand der
neue Nationalstaat der Tschechen und Slowaken, die nie zuvor auf Dauer vereint gewesen war-
en. Die deutschsprachigen Bewohner, die unter den Habsburgern lange den Ton angegeben hat-
ten, fanden sich in der Position einer Minderheit wieder, immerhin 3,2 Millionen Menschen,
im tschechischen Teil 29,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Am 4. März 1919 demonstrierten
Zehntausende von ihnen in den Grenzgebieten für den Anschluss an Deutsch-Österreich,
tschechoslowakischeSicherheitskräftegingendagegenmitWaffengewaltvorundesgabvierund-
fünfzig Tote. Für die deutsche Volksgruppe war dies ein schauriges Fanal, dem administrative
Beschränkungen folgten. Die zugesicherte Autonomie wurde ihr vorenthalten.
UnterdiesemDruckbegannendieEgerländer,BöhmerwäldleroderIsergebirgler,dieeherein-
er regionalen Identität verhaftet waren, sich als Sprach- und Schicksalsgemeinschaft zu fühlen.
Es verbreitete sich der Sammelname Sudetendeutsche und fand Anwendung auch auf die, die
gar nicht im Gebiet der Sudeten, sondern westlich und nördlich des böhmischen Kessels an der
GrenzezuBayernundSachsenoderaufderIglauerundSchönhengsterSprachinsellebten.Jeden-
falls gab der Bankangestellte und Turnlehrer Konrad Henlein seiner 1933 gegründeten deutsch-
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